Erst kürzlich stand im Gespräch mit einer Künstlerin plötzlich die Überlegung im Raum ob es nicht sein könnte, dass Frauen grundsätzlich über mehr kreatives Potential verfügen als Männer. Weil Künstlerinnen sich, schon immer und zum Großteil immer noch, was ihre Akzeptanz betrifft so weit abseits gängiger Schubladen bewegen, dass sie sich keine Gedanken darüber machen müssen, wie sie dort hinein passen können. Sie kreieren stattdessen einfach ihre eigenen. Es mag nach einer steilen These klingen und dem ein oder anderen mag sie nicht inklusiv genug sein, aber seitdem ich einmal angefangen habe über sie nachzudenken, kommen mir immer wieder mediale Kunstwerke unter, bei denen ich das Gefühl habe, dass nur eine Frau sie so kreieren konnte. Miranda Julys neuer Kinofilm „Kajillionare“ ist dafür das perfekte Beispiel.
„Kajillionaire“ ist auf eine Art kreativ, die ich, auf zum Teil erklärbare Weise, zum anderen rein intuitiv, als ausgesprochen weiblich empfinde. Das beginnt beim Storytelling und endet bei der künstlerischen Umsetzung. Dazwischen findet sich auch einiges, das an die Arbeit männlicher Kollegen erinnert. So zum Beispiel die leicht aus der Realität fallenden Kostüme, wie der immer gleiche Trainingsanzug der Hauptfigur Old Dolio, der Erinnerungen an Wes Andersons „The Royal Tenenbaums“ weckt, der, wie auch „Kajillionaire“, die Geschichte einer dysfunktionalen Familie erzählt. Auch die verlangsamte, zum Teil fast hölzerne Art der Figuren zu agieren, kennt man von Kollegen wie Anderson oder Aki Kaurismäki. Was Miranda Julys Art des Filmemachens aber so besonders macht, ist eine ungewöhnliche Wärme, dank der die überbordende Kreativität, die einem aus Bildern, Figuren und Dialogen entgegen springt, nie zur reinen Staffage, zum Spiel mit doppeltem Boden wird. Alles hat hier seinen Sinn, nichts wird rein um des Effektes Willen im Raum stehen gelassen. Selbst der rosafarbene Seifenschaum, der einem im Trailer noch wie ein hübsch anzusehender Gimmick vorkommt, spielt in der Geschichte um eine Familie von Kleinstganoven eine entscheidende Rolle.
„Wir teilen alles durch drei“, sagt die 26 jährige Old Dolio (Evan Rachel Wood), als sie gefragt wird, was ihre Eltern (Debra Winger und Richard Jenkins) eigentlich zu ihren Eltern macht. Die Familie hält sich mit Gaunereien der kleinsten Sorte über Wasser. Briefsendungen klauen, in der Hoffnung dass sich darin entweder Geld befindet oder etwas, das man zu solchem machen kann. Belohnungen für angeblich wiedergefundene Sachen einfordern, Gutscheine gegen ihren Warenwert eintauschen und natürlich die regelmäßige Teilnahme an Gewinnspielen. Die Erlöse werden gerecht durch drei geteilt und natürlich muss die Miete bezahlt werden, auch wenn es sich bei der angeblichen Wohnung um ein marodes Warenlager handelt, an dessen Wänden täglich zu festen Zeiten der bereits erwähnte rosa Seifenschaum herunterfließt. Old Dolio ist eine gute Tochter. Sie ist stets rechtzeitig vor Ort, um den Seifenschaum einzufangen. Sie führt die von ihren Eltern aufgetragenen Trickbetrügereien sorgfältig und mit vollem Körpereinsatz aus. Als sie aber eines Tages, natürlich im Auftrag und gegen Geld, in einem Sozialkurs für Säuglingspflege landet, dämmert es ihr erstmals, dass zum Elternsein vielleicht mehr dazu gehört, als alles durch drei zu teilen.
Auf einem Flug nach New York (der natürlich dem Betrug an einer Gepäckversicherung dienen soll) tritt eine junge Frau namens Melanie (Gina Rodriguez) ins Leben des seltsamen Trios. Sie ist auf den ersten Blick das absolute Gegenteil der drei, körperlich, kontaktfreudig, lebensfroh. Aber auch Melanie sehnt sich nach einem Gefühl von Zugehörigkeit in ihrem Leben, und da ihr Lieblingsfilm zufällig „Oceans 11“ ist, stellt sie sich bereitwillig als Komplizin zur Verfügung. Sie erschließt aber nicht nur neue betrügerische Wirkungskreise, sondern rührt auch beständig an dem Stachel, der sich inzwischen in Old Dolio festgesetzt hat, dass es im Leben vielleicht doch mehr geben muss als pure Grundversorgung. Old Dolio ist zunehmend verwirrt, dass ihre Eltern so ganz anders auf Melanie reagieren als auf sie, mit Streicheleinheiten und Koseworten. Schließlich geht Melanie einen Deal mit ihr ein und verspricht, für die fehlenden Dinge zu sorgen: Pfannkuchen, ein Tanz, Geburtstagsgeschenke mit Schleife und der sogenannte Breast Crawl, der Kraftakt, mit dem ein Neugeborenes sich auf die Suche nach der Brust der Mutter macht. Das Ganze natürlich auf die einzige Art, wie Old Dolio es gewöhnt ist, gegen Bezahlung. Am Ende steht über allem die entscheidende Frage, die es zu klären gilt, ob ihre Eltern in ihr mehr sehen als einen zuverlässigen Partner in Crime.
Das mag alles wahnsinnig verrückt klingen. Ist es natürlich auch, aber letztendlich geht es in „Kajillionaire“ um nichts weiter als die tiefsten menschlichen Grundbedürfnisse, und die fangen dort an, wo ein Kind nichts weiter will, als von seinen Eltern geliebt zu werden. Dass sich hinter ihrer Vorliebe für Kuriositäten letztendlich eine Auseinandersetzung mit elementaren menschlichen Bedürfnissen verbirgt, ist typisch für Miranda Julys Erzählkunst. Auf diese Weise funktionierte auch zuletzt ihr Roman „Der erste fiese Typ“. Es mag sein, dass man ein wenig Zeit braucht, sich auf diese besondere Erzählweise einzulassen, aber dafür wird man am Ende mehr als belohnt.
Die Intensität, mit der Evan Rachel Wood sich als Old Doilo auf ihrer Suche begibt, ist schlichtweg atemberaubend, besonders im Wechselspiel mit der augenscheinlichen Leichtigkeit, mit der Gina Rodriguez als Melanie in ihr Leben tritt. Jede Figur tut hier das, was sie für sich als das Beste betrachtet. Aber manchmal ist das Beste einfach nicht gut genug. Herauszufinden, was man als Mensch sich selbst und anderen wert ist, das ist Old Dolios große Aufgabe und die eigentliche Botschaft von „Kajiliionaire“. Ein Film, der mit seiner Geschichte nicht mehr zu Herzen gehen und in seiner Machart kaum innovativer sein könnte. Und, meiner vielleicht unmaßgeblichen persönlichen Meinung nach, wunderbar weiblich ist.
Fotos © Focus Features