Gleich zu Beginn des Reeperbahn Festivals, während der Eröffnungsgala, wird ein Vergleich laut, der sich für den Rest der kommenden Tage wie ein roter Faden durch meine Wahrnehmung hindurchzieht. Das Reeperbahn Festival habe sich in den Jahren seit seiner ersten Ausgabe im Jahr 2006 zu etwas entwickelt, das man als die Berlinale der Musikbranche bezeichnen könnte. Und wer schon einmal die Berlinale in ihrem vollen Umfang mitgemacht hat, der dürfte sich mir anschließen wenn ich sage: da ist was dran. Mehrere Tage hintereinander spurtet man von einer Location zur anderen, von einem Programmpunkt zum nächsten, wissend, dass man nur einen Bruchteil wird schaffen können von dem, was einem hier geboten wird. Es werden Preise verliehen, Parties gefeiert, man kann sein Branchenwissen auf den Konferenzen erweitern und wenn man es richtig anstellt gibt es gefühlt ständig leckeres Essen umsonst. Und tatsächlich erweitert sich auch das Angebot an Filmen, die man auf dem Reeperbahn Festival sehen kann. So präsentierte zum Beispiel Kate Nash am Freitag ihre Dokumentation „Underestimate the Girl“, am Samstag gab es eine exklusive Preview von Todd Phillips „Joker“. Und spätestens wenn einem bei der Eröffnungsgala als erstes Lars Eidinger entgegen läuft weiß man, der Vergleich hinkt nicht.
Natürlich steht das Reeperbahn Festival in seiner inzwischen 14. Ausgabe immer noch im Zeichen der Musik. 50.000 Besucher konnte das größte Clubfestival Europas dieses Jahr verzeichnen, und das bekam man auch zu spüren. An lange Schlangen vor den zum Teil kleinen Clubs muss man sich gewöhnen, auch daran dass besonders beliebte Locations wie das Molotow am Wochenende zum Teil schon in den frühen Nachmittagsstunden Einlassstop vermeldeten. Aber auch die Bedeutung des Festivals für die Musikbranche ruft einem überall entgegen. Ständig trifft man Menschen die man kennt (oder solche, die man kennenlernen möchte), und es gibt vor allem sehr, sehr viel Musik zu entdecken. Das Programm steht dabei immer noch in der Tradition der Newcomer Förderung. Allen KünstlerInnen, mit denen ich in den vergangenen Tagen gesprochen habe, war die Bedeutung dessen, beim Reeperbahn Festival auftreten zu dürfen absolut bewusst. Beeindruckend war auch das durchgängig sehr hohe Niveau, zumindest der Shows, die ich sehen durfte.
Das ging natürlich direkt mit dem exquisiten Programm bei der Doors Open Gala los. Nach der Eröffnungsveranstaltung, bei der die Moderatoren Charlotte Roche und Ray Cokes unter anderem die Mitglieder der Anchor Award Jury vorstellten (kommen wir später drauf zurück), gaben sich auf der Bühne des Operettenhauses Angus Stone mit seinem Projekt Dope Lemon und im Anschluss Feist die Ehre. Das war schon an Großartigkeit schwer zu überbieten. Angus Stone spielte im Kreise seiner Bandkollegen seine Leidenschaft für die Musik voll aus und machte es auf diese Weise unmöglich, sich dem Charme seiner Dope Lemon Songs zu entziehen. Und ein Konzert von Feist – nun ja, das ist immer ein klein wenig wie ein Besuch von einem anderen Planeten.
Wenn man in dem auf die Eröffnung folgenden Überangebot nicht untergehen will, ist es sinnvoll sich selbst einen Leitfaden an die Hand zu geben. Und da ich, wahrscheinlich ebenfalls geprägt durch die Berlinale, ein Faible dafür habe bei Preisverleihungen mitzufiebern, beschloss ich, mir auf jeden Fall die für den Anchor Award nominierten Acts anzusehen. Die Jury bestand in diesem Jahr aus der australischen Radiomoderatorin Zan Rowe, dem kanadischen Producer Bob Rock, Kate Nash, Peaches, Arnim Teutoburg-Weiß von den Beatsteaks und Producer-Legende Tony Visconti, der seit der ersten Anchor Verleihung im Jahr 2016 fester Bestandteil der Jury ist. Visconti selbst sagte bei der Preisverleihung am Samstag Abend, dass das Niveau der um den Anchor Award konkurrierenden Künstler noch nie so hoch war wie in diesem Jahr. Und trotzdem kristallisierte sich im Vorfeld schnell heraus, dass es eine heiße Anwärterin auf den Preis gab. Kaum jemand hatte vom ersten Moment an sein Publikum derart im Griff wie die ukrainische Rapperin und ehemalige Kindergärtnerin alyona alyona. Da riss es auch Peaches und Kate Nash von ihren Plätzen an der Bar, und während sie sich tanzend ins Gewühl stürzten, stand Beatsteaks Arnim neben mir, das Grinsen fest ins Gesicht getackert.
Der Auftritt von alyona alyona im Nochtspeicher blieb tatsächlich bis zum Schluss eins meiner persönlichen Highlights. Rohe Energie, starke Bühnenpräsenz, Songs die beim ersten Hören direkt im Ohr bleiben und nicht zuletzt eine ordentliche Prise Humor haben ihre Performance zu einer der mitreißendsten gemacht, die ich seit langem gesehen habe. Der Jury ging es wohl genauso, sie entschied sich dafür, alyona alyona den Anchor Award 2019 zu überreichen. Ihr dicht auf den Fersen war in meinem persönlichen Ranking die Band The Hormones. Die Show der vier Chinesinnen, ebenfalls im Nochtspeicher, entwickelte sich langsam aber kontinuierlich zu einem hypnotischen Tanz-Happening. Ihre Songs schrauben sich Schicht um Schicht nach oben und lassen einen am Ende verschwitzt und im positivsten Sinne leicht zerstört zurück.
Da die Vergabe des Anchor Awards nach der Beurteilung der Live-Shows erfolgt, ist es aber auch offensichtlich, dass energetische Live-Acts es leichter haben zu überzeugen. An der Qualität der Auftritte von Moyka und vor allem Celeste (die dieses Jahr bereits im Vorprogramm von Janelle Monáe bezauberte) änderte das gar nichts. Beide Damen sind mit wirklich unglaublichen Stimmen ausgestattet, und Celestes schüchternes Auftreten hat, in Kombination mit ihrem wunderschönen Äußeren einen ganz besonderen Charme. Die britische Band Drahla überzeugte mit viel Eigenständigkeit und die niederländische Formation Feng Suave kann man wirklich erst beurteilen, wenn man ihren warmen Soul-Sound live erlebt hat. Als großes Bonbon gab es bei der Preisverleihung dann noch eine Performance von einmaligem Ausmaß zu sehen: die Jury-Mitglieder Peaches, Kate Nash, Bo Rock und Tony Visconti formierten sich zur Supergroup Jury Duty und gaben, begleitet vom Kaiser Quartett, David Bowies „Moonage Daydream“ zum Besten – fünf Minuten, die das Potential hatten, das gesamte Festival in den Schatten zu stellen.
Der große Spaß am Reeperbahn Festival ist nach wie vor das Club-Hopping. Es ist wirklich faszinierend, wieviele Clubs verschiedensten Charmes sich rund um die Reeperbahn befinden. Da das Wetter sich vor allem am Samstag von seiner besten Seite zeigte ist es kein Wunder, dass der Hinterhof des Molotows einer der beliebtesten Orte war. Manche Clubs wiederum sind so klein, dass sie dem Besucheransturm kaum gerecht werden können. So endete zum Beispiel der Versuch, die österreichische Supergroup My Ugly Clementine zu sehen mit dem Blick auf viele Hinterköpfe, dazu etwas Musik im Hintergrund. Wenn es im Uebel und Gefährlich so richtig voll wird (wie zum Beispiel bei einem der seltenen Deutschlandkonzerte der kanadischen Band Stars), kriegt man schon leichte Beklemmungen, wenn man an den Fluchtweg über das Treppenhaus denkt. Prozentual zum Besucherwachstum wächst aber auch das Gelände des Festival Village, das schon bald die Ausmaße eines normalen Outdoor-Festivals erreicht hat. Irgendeinen Ort, an dem man sich wohl fühlt, findet man also immer.
Für die Zukunft könnte man sich wünschen, dass die vielen spannenden Panels des Konferenzprogramms noch mehr Zuspruch finden. Selbst beim Talk mit Peaches im Schmidt Theater hätte es noch viel voller sein können. Der Preis für ein Vier-Tages-Ticket inklusive Konferenzen ist etwas höher, je nach Location sichert das damit verbundene Delegates-Band aber auch schnelleren, beziehungsweise bevorzugten Einlass in die Konzerte. Insgesamt hat Reeperbahn Festival sich auch dieses Jahr wieder als ein Festival präsentiert, das sowohl in seiner Vielfalt als auch in seiner Atmosphäre schlichtweg einzigartig ist – die jährlich schönste Überforderung zwischen Musik, Party, Information und Fischbrötchen, die man sich wünschen kann