Warum die Berlinale uns zu besseren Menschen machen kann

The Red Phallus

Ich habe bei der diesjährigen Berlinale knapp 30 Filme gesehen. Das mag viel klingen, wenn man aber bedenkt, dass die Berlinale eins der größten Filmfestivals der Welt ist und dort pro Jahr an die 400 Filme zu sehen sind, relativiert sich die Zahl gleich ein wenig. Jedes Jahr arbeite ich deshalb aufs Neue an meiner Festival-Taktik, um natürlich nicht nur so viele wie möglich, sondern im Idealfall auch möglichst viele gute Filme zu sehen.

In den ersten Jahren habe ich mich hauptsächlich auf die Wettbewerbs-Beiträge konzentriert. Ohne Frage ist der Wettbewerb die Königsdisziplin der Berlinale und es ist einfach immer wieder spannend, wer in welchen Kategorien die begehrten Bären einsacken wird. Allerdings, und das durfte ich in den vergangenen Jahren immer wieder schmerzlich erfahren, schützt auch das Siegel des großen Wettbewerbs nicht vor quälenden Erfahrungen im Kinosessel, die einen vor die große Gewissensfrage stellen: schuldet man es dem Respekt vor der Kunst, die folgenden 90 bis 180 Minuten auszusitzen? Oder ist einem die eigene Lebenszeit doch wichtiger? Man kriegt sie einfach nicht wieder zurück, die Stunden, die man in einem Film zubringt, der einen meist schon nach den ersten 20 Minuten erahnen lässt: wir werden keine Freunde.

Der Kampf gegen den inneren Kulturschweinehund

Sowohl dieses als auch letztes Jahr ist es mir einmal passiert, dass ich den Kampf gegen den inneren Kulturschweinehund verloren habe und frühzeitig das Kino verlassen habe. Das ist im Verhältnis zu dem, was ich (zum Teil durchaus tapfer) ausgesessen habe, schon ganz okay. Es gehört wirklich einiges dazu, mich in die Flucht zu schlagen. Denn, ich habe mit den Jahren gelernt, dass ich, selbst wenn ein Film mich vielleicht ein wenig langweilt, wenn er nicht ganz den Ton trifft, der mich begeistert oder ich einzelne Aspekte von ihm nicht ganz so gelungen finde, es doch immer etwas gibt, das ich daraus ziehen kann.

Deshalb bin ich dazu übergegangen, mich weniger auf eine möglichst repräsentative Abdeckung der einzelnen Sektionen zu konzentrieren, sondern mich stattdessen im Vorfeld noch genauer über die Filme an sich zu informieren. Mehr danach zu gehen, was mich inhaltlich interessiert. Auf diese Weise habe ich festgestellt, dass es neben dem Wettbewerb vor allem die Sektionen Generation und Panorama sind, in denen man richtige Schätze entdecken kann. Ich würde sogar soweit gehen zu sagen, dass die stärkste Sektion der Berlinale, in der ich die meisten überzeugenden Beiträge gesehen habe, für mich dieses Jahr die Generation war.

Und nun worauf ich eigentlich hinaus will: die Quote an Berlinale Filmen, die mich so richtig begeistert haben, war 2019 nicht besonders hoch. Und trotzdem habe ich das Gefühl, dass ich von dieser Berlinale wieder viel mit nach Hause genommen habe. Themen, Gedanken und Bilder, die mich zum Teil bis heute beschäftigen. Die Berlinale schafft etwas, das selbst in heutigen Zeiten, in denen man dank Internet und digitaler Kommunikation täglich von Nachrichten und Bildern aus der ganzen Welt überschwemmt wird, nicht selbstverständlich ist. Sie vermittelt einem ein Bild von der Welt dort draußen, fernab von Sensationen und Katastrophen. Sie lässt einen eintauchen in Alltage, die einem fern sind und vermittelt deshalb ein Weltbild, das weit über den eigenen Tellerrand und die neuesten Spiegel Online Meldungen beim Frühstück hinaus geht.

Coming-of-Age in Bhutan und Rollenspiele in Finnland

So habe ich in der Generation zum Beispiel den Jugendfilm „The Red Phallus“ aus Bhutan gesehen. Darin geht es um ein 16-jähriges Mädchen, das mit ihrem Vater in einem abgelegenen Tal in Zentral-Bhutan lebt. Der Vater hat sich auf die Herstellung von Glückssymbolen in Form hölzerner Phallen spezialisiert, das Mädchen kämpft um ihre Position als heranwachsende Frau in einer repressiven Umgebung. Der Film ist in seiner Ruhe verstörend, teilweise ein wenig zäh, aber die Bilder, wie dieses junge Mädchen endlos durch die menschenleere Landschaft wandelt, wie sie in ihrem Bett in einem einfachen Holzhaus liegt, begleiten mich bis heute. 90 Minuten lang durfte ich in ihre Welt blicken und ein Gefühl für ihre Probleme kriegen, die so anders sind als die meiner fast gleichaltrigen Tochter, so ernst und so schwerwiegend.

The Magic Life of V

Dank dem finnischen Dokumentarfilm „The Magic Life of V“ (ebenfalls Generation) durfte ich Veera kennenlernen, eine junge Frau, die versucht Abstand von ihrer traumatischen Vergangenheit zu gewinnen, indem sie an aufwändigen Live-Rollenspielen teilnimmt. Ihr selbst kreierter Charakter V kann all das, was Veera nicht kann: sich Dämonen stellen und Probleme mit Hilfe von Magie besiegen. Ich habe mich bis dato wenig mit dem Phänomen derartiger Rollenspiele auseinander gesetzt und fand die Art, wie Regisseur Tonislav Hristov dieses Genre beleuchtet, sehr erhellend. Respektvoll, ohne Häme und mit ehrlichem Interesse. Gleichzeitig kommt man seiner Hauptfigur Veera so nah, dass man sich fast ein bisschen geehrt fühlt, dass sie einem Einblick in ihr Leben gewährt.

Tatsächlich, so stelle ich immer wieder fest, sind es vor allem Filme über junge und jugendliche Protagonisten, die diesen Horizont erweiternden Effekt auf mich haben. Wie zum Beispiel „The Day After I’m Gone“ vom israelischen Regisseur Nimrod Eldar, gesehen in der Sektion Panorama. Nach dem Tod der Mutter wird das Verhältnis zwischen der 17 jährigen Roni und ihrem Vater Yoram zunehmend schwieriger. Nachdem Roni versucht hat sich das Leben zu nehmen, flüchten Vater und Tochter aus Tel Aviv zur Familie, die sich mitten in der Einöde hinter Zäunen verschanzt haben, immer in der Erwartung, von Palästinensern angegriffen zu werden. Ronis Schmerz und ihre Sorgen sind spezifisch und allgemeingültig zugleich. Der Schmerz über den Verlust der Mutter trifft auf die Situation in ihrer Heimat, in der die Familie gleichzeitig behütend und beklemmend erscheint.

Weltreise in Kurzformat

Ich habe dieses Jahr viele Filme gesehen, die einem einen Einblick in die Seele von jungen Menschen geben. Der finnische Beitrag „Stupid Young Heart“ zum Beispiel über eine Teenager Schwangerschaft und die Flucht in die auf den ersten Blick Antwort liefernde Welt des Rechtsradikalismus. Oder der kanadische Film „Une Colonie“ über den Schmerz des Dazu-Gehören-Wollens und die Freundschaft zwischen einem weißen Mädchen und einem Jungen aus einem Abenaki-Reservat. In seinem Debütfilm „Kislota“ fängt der russische Regisseur Gorchilin, selber gerade mal 26 Jahre alt, auf überzeugende Weise das Lebensgefühl einer verunsicherten Generation zwischen Exzess und Depression ein.

Kislota

Ein ganz eigener, weltumspannender Kosmos für sich ist außerdem die Sektion Berlinale Shorts. Erstaunlich, wieviel Welt man in so wenigen Minuten Film zeigen kann. In „All on a Mardi Gras Day“ lernen wir den schwarzen Künstler Demond Melancon kennen, der in New Orleans lebt, aufgrund der Gentrifizierung gezwungen war, sein Stadtviertel zu verlassen und nun in einem der ärmeren Außenbezirke lebt. Das ganze Jahr bringt er damit zu, sein Kostüm für den Mardi Gras Umzug zu nähen. Unsagbare Kunstwerke aus Perlen und Federn, die den Stolz der schwarzen Bevölkerung von New Orleans präsentieren. „Blue Boy“ von Manuel Abramovich porträtiert auf minimalistische Weise junge Männer, die in der titelgebenden Blue Boy Bar in Berlin ihre Körper verkaufen. Und der italienische Kurzfilm „Suc de síndria“ zeigt feinfühlig, welchen Einfluss sexueller Missbrauch auf eine Beziehung haben kann und wie man diesen großen Schmerz gemeinsam überwinden kann.

Jeder dieser Filme und viele weitere die ich gesehen habe, haben mir etwas mit auf den Weg gegeben, unabhängig davon, ob ich sie im Ganzen gelungen fand oder nicht. Eine Sicht auf die Welt, ein Gefühl für den Alltag, für die Probleme, aber auch für die Freuden von Menschen, die geografisch, altersmäßig oder gesellschaftlich weit von mir entfernt sind. Ich konnte sehen was uns trennt und was uns verbindet und das beides nicht wenig ist. Das gilt im übrigen gleichermaßen für Dokumentar- wie Spielfilme. Zu sehen, welche Themen Filmemacher auf der ganzen Welt beschäftigen, was ihnen ein Bedürfnis ist zu erzählen, ist unglaublich bereichernd. Denn ich glaube, das ist genau das, was wir in der heutigen Zeit stärker brauchen denn je: ein offenes Herz und einen offenen Blick für die Menschen außerhalb unseres persönlichen Kosmos. Dass Lesen uns zu freundlicheren und einfühlsameren Menschen macht, wollen Forscher bereits bewiesen haben. Ich glaube, mit dem Kino verhält es sich genauso. Und wo kann man besser eine kleine Weltreise machen, ganz bequem vom Kinosessel aus, als bei der Berlinale?

www.berlinale.de