Pitchfork Music Festival Paris 2019: Gemeinsam auf den ersten Kuss warten

The 1975 © KR

„How I’d love to go to Paris again“ heißt es in einem Song von The 1975, der natürlich „Paris“ heißt. Das passte letzte Woche bereits wie die Faust aufs Auge, als ich mich in den Flieger setzte, um nach Paris zu fliegen. Und es ist der Song, der mir im Kopf herumspukt, seitdem ich wieder Zuhause gelandet bin. Ich könnte mich direkt wieder auf den Weg machen.

Der Grund für meinen Besuch war, dass ich dieses Jahr zum ersten Mal die Gelegenheit bekommen habe, über das Pitchfork Music Festival Paris zu berichten – was mich umso mehr gefreut hat, da wir nächstes Jahr auch hier in Berlin einen Ableger des weltberühmten Festivals bekommen werden, das für sein anspruchsvolles und stilistisch besonders eklektisches Programm bekannt ist. Dass ich mir vorab schon einmal die große europäische Schwester anschauen durfte (in Frankreich findet das Pitchfork Music Festival bereits seit 2011 statt), war natürlich ein echtes Highlight.

Drei Tage lang findet der Spaß in der Grande Halle de la Villette statt, einem ehemaligen Schlachthof im 19. Arrondissement. Am Freitag und am Samstag war ich vor Ort, unternehmungslustig, vergnügungswillig und vor allem voller Bereitschaft, neue Musik zu entdecken. Denn das Line-Up des Pitchfork Music Festivals besteht traditionell aus einer bunten Mischung aus großen, internationalen Acts und spannenden Newcomern. Dieses Jahr fand es zum ersten Mal auf vier statt zwei Bühnen statt, das heißt noch mehr Musik, noch mehr Gelegenheiten, sich einfach treiben zu lassen. 

Tag 1: Go with the flow

Briston Maroney © Alban Gendrot

Wie sehr es sich lohnt einfach mit dem Flow zu gehen, darf ich direkt zu Anfang meines ersten Tages erfahren, als ich ahnungslos einem Pulk von Menschen hinterher trotte und im Studio lande, wo der 21 Jahre „alte“ Briston Maroney gerade sein Set beginnt. Der Amerikaner sieht mit  Zottelmähne, Basecap, Karohemd und Schlabberhosen aus wie den Grunge-Zeiten der frühen Neunziger entsprungen und haut auf seiner Gitarre mächtig in die Seiten. Aber schnell wird klar, dass hier mehr passiert als eine gängige Grunge-Rock-Performance. Briston Maroney hat eine unglaubliche Intensität, sowohl in seiner Stimme als auch seinem Songwriting und seinem Auftreten – und das in seinem zarten Alter. Alles wirkt erstaunlich ausgefeilt, dabei gleichzeitig roh und unkalkuliert. Die überbordende Emotion der Jugend ist doch etwas Herrliches! Ich habe direkt Gänsehaut. Und auch der Rest des Publikums hängt bis zum Schluss an Briston Maroneys Lippen. Während der gesamten Show verlässt so gut wie keiner den Saal, am Ende reißt es alle von den Sitzen. 

Das Programm in der großen Halle eröffnet die Electro-Formation Desire, eines der diversen Projekte des amerikanischen Producers Johnny Jewel, der später noch mit Chromatics auf der Bühne stehen wird. Der Auftritt von Desire ist unterhaltsam und gut fürs Tanzbein, wirkt aber seltsam antiquiert. Gleich zum zweiten Mal an diesem Abend habe ich das Gefühl, in den frühen Neunzigern gelandet zu sein, diesmal aber nicht nur optisch: eine Frau im hautengen Lackkleid, poppiger Gesang zu gefälligen Beats, Visuals in Neon-Schrift-Optik. Dagegen wirken die schottischen Rock-Urgesteine Primal Scream fast 40 Jahre nach ihrer Gründung begeisternd aktuell und beweisen mit ihrer Bühnenshow, dass sie für viele aktuelle Acts immer noch als Referenz dienen. Davon mal abgesehen ist Bobby Gillespie in seinem pinkfarbenen Anzug eine verdammt coole Socke. 

Danach verziehe ich mich zurück ins Studio, wo die amerikanisch/mexikanische Künstlerin Jackie Mendoza mit ihren Soundtüfteleien beschäftigt ist. Ein Synthesizer und eine elektrische Ukulele bestimmen ihren kraftvollen Sound, was ganz spannend ist, in der Performance aber nicht so richtig rüberkommt, da sie hauptsächlich mit dem Erzeugen von Klängen beschäftigt ist. Viel sieht man nicht von ihr unter ihrem wilden Haarschopf, und sie scheint auch nicht viel Interesse daran zu haben, eine Verbindung zum Publikum herzustellen. Es ist zu diesem Zeitpunkt schon ein langer Tag für mich, und beinah döse ich auf meinem Sitz davon.

CHAI © Vincent Arbelet

Zum Glück wecken mich die folgenden Bands in der kleinen Halle zuverlässig wieder auf. Bei Sheer Mag wird es ganz klassisch rockig und sehr energetisch. Frontfrau Tina Halladay wirft ihre zweifarbige Haarmähne in bester Hardrock-Manier hin und her und klingt ein bisschen wie ein weiblicher Angus Young. Die japanische Electro-Punk-Band CHAI ist für mich aktuell sowieso einer der lustigsten Live-Acts überhaupt. Das sieht das Publikum offensichtlich genauso wie ich und feiert kräftig mit. Von meiner (gleichermaßen lustigen) Begegnung mit CHAI, an der Mana, Kana, Yuki, Yuuna, ich und eine wenig englisch sprechende Japanisch-Übersetzerin beteiligt waren, werde ich demnächst ausführlicher erzählen. 

Tag 2: Kurz vor dem ersten Kuss

Aurora @ Vincent Arbelet

Am nächsten Tag ist irgendetwas anders. Vor dem Eingang zur Grande Halle de la Villette stehen am Samstag bereits vor Einlass zahlreiche Menschen in der Schlange. Sie sind bunt gekleidet, sie sind sehr jung, und sie singen. An diesem Abend sind The 1975 Headliner in der großen Halle, und sie haben offensichtlich ihr eigenes Publikum mitgebracht. Außerdem werden unter anderem Aurora (die auch eine große Fanbase anzieht und mit der ich ebenfalls eine entzückende Begegnung hatte, von der ich noch berichten werde) und Charli XCX auf der Bühne stehen, das heißt es wird poppig! Und da ich ja überhaupt nichts gegen eine gute Popshow habe, verspricht es ein guter Abend zu werden.

Er startet in der großen Halle mit der sehr sweeten Jamila Woods, die von den Menschen in den ersten Reihen mit viel Liebe unterstützt wird – was wirklich toll ist, da wir wissen, dass kaum jemand wegen ihr ganz vorne vor der Bühne steht. Charli XCX scheint als Act ebenfalls gut gewählt, ihre Fanbase überschneidet sich offensichtlich großzügig mit der von The 1975. Wenn man sich erst einmal daran gewöhnt hat, dass sie alleine auf der Bühne steht und ihre musikalische Untermalung komplett vom Band kommt, macht ihre Show großen Spaß. Es gehört auch etwas dazu, sich ganz alleine vor so viele Menschen zu stellen und diese vom ersten Moment an komplett im Griff zu haben. Charli XCX hat sehr viel Energie, das Publikum gibt eine erste Kostprobe davon wie textsicher es ist, und der Gastauftritt von Héloïse Letissier aka Christine and the Queens zum gemeinsamen Song „Gone“ ist das Tüpfelchen auf dem i. 

Charli XCX @ Vincent Arbelet

Dann geht es auch schon in die letzte Umbaupause vor The 1975, und spätestens jetzt liegt so ein greifbares Flirren in der Luft. Das erste Kreischen geht durch die Reihen, als die Stagecrew beginnt das leuchtende Viereck aufzubauen, das visuelle, ikonische Zentrum der 1975 Show. Das Mädchen neben mir hat ein Schild gebastelt und erzählt mir und meiner Begleitung ohne Umschweife, wie gerne sie von Matty Healy geküsst werden würde und dass das dann ihr erster Kuss wäre. Tatsächlich beschreibt sie damit die Stimmung in diesem Moment perfekt: als würden tausende von Menschen gemeinsam auf ihren ersten Kuss warten. 

Als die Band aus Manchester pünktlich um viertel vor zehn auf die Bühne geht, gibt es erwartungsgemäß kein Halten mehr. Die meiste Zeit muss man sich allein auf seinen Glauben verlassen, dass Matty Healy da oben auf der Bühne etwas singt – zu verstehen ist es kaum. Notiz an jeden Tontechniker, der jemals in der Position sein sollte eine The 1975 Show regeln zu müssen: einfach alles einen Tacken lauter drehen. Zumindest in den ersten Reihen ist das Publikum derart euphorisch, engagiert und textsicher, dass kaum etwas anderes zu hören ist als der Gesang aus tausenden von Kehlen. Gleichzeitig herrscht eine extrem positive Stimmung. Obwohl die Plätze im vorderen Teil hart erkämpft wurden, ist das Miteinander sehr friedlich, es wird nicht geschubst, gedrängelt oder von hinten nach vorne geschoben. Als mir vor lauter Tanzen und Gehüpfe die Brille aus dem Gesicht fällt, sind sofort zwei Leute behilflich sie wiederzufinden. Vielleicht liegt es an dem großen Anteil junger Mädchen, deren Begeisterung, Aufregung und zum Teil großzügig vergossene Tränen mir wirklich zu Herzen gehen. Es könnte auf jeden Fall sein, dass The 1975 das netteste Publikum haben, das ich je erlebt habe.

The 1975 @ KR

Der positiven Stimmung tut auch keinen Abbruch, dass Matty Healy das erste Drittel der Show ein wenig so wirkt, als wäre ihm eine Laus über die Leber gelaufen. Offensichtlich vergnatzt ist er zum Beispiel darüber, dass selbst die Headliner beim Pitchfork Music Festival nur eine Stunde Stagetime bekommen (was in der Tat ein fragwürdiges Konzept ist). „Disrespectful“ ihm gegenüber wäre das, verkündet er selbstbewusst. Aber die ihm vom Publikum aus vollen Kannen entgegen geschüttete Liebe erweicht dann doch schnell sein Herz. Als ein Fan ihm zu „Sincerity Is Scary“ die unverzichtbare Öhrchen-Mütze leiht sorgt er dafür, dass sie danach wieder an den richtigen Besitzer zurück geht. Und als das Publikum ihn beim Bad in der Menge in die zahlreichen Arme schließt und ihm sehnsuchtsvoll den Haarschopf krault, entfährt ihm ein leidenschaftliches „thank you for loving me!“„What a litte shit“, sagt meine Begleitung leise zu mir. Aber auch sie sagt es mit ganz viel Liebe. In Nummern wie „Love It If We Made It“ und „I Like America & America Likes Me“ scheint er seine leichte Wut immer wieder zu channeln, was vielleicht der Grund ist, warum die beiden Songs an diesem Abend zu den stärksten gehören. Am Ende überzieht die Band um eine gute Viertelstunde, holt sich damit zumindest einen Teil des vermissten Respekts wieder ein und bringt beim letzten Song auch noch die „Pitchfork Hipster“ (O-Ton Matty Healy) in den letzten Reihen zum Hüpfen.

Um das Konzert im vollen Maße beurteilen zu können, musste ich mir hinterher noch einmal die Aufzeichnung zu Gemüte führen, und da wird erst so richtig deutlich, wie wenig sich The 1975 an diesem Abend auch rein musikalisch haben lumpen lassen. Aber so ist das nunmal beim ersten Kuss, da ist man ja so aufgeregt, dass man im entscheidenden Moment alles gar nicht richtig mit kriegt.

Zum Ende des Abends tanzen wir noch eine Runde zu 2manyDJs. Nach den vergangenen zwei Tagen bin ich so beglückt, erfüllt und rechtschaffen müde, dass meine Aufnahmefähigkeit sich kaum mehr weiter strapazieren lässt. Bleibt nur noch zu sagen: Merci pour l’invitation, Pitchfork. Wir sehen uns in Berlin!

www.pitchforkmusicfestival.fr