Gelesen: Sibylle Berg „GRM – Brainfuck“

Kann man das überhaupt noch als Roman bezeichnen? Einem mehr als 600-seitigen Rant gleicht Sibylle Bergs neuestes Werk „GRM – Brainfuck“, das jeglichen literarischen Konventionen, jeglicher klassischer Struktur strotzt. Satzzeichen? Setze ich da wo ich will. Figuren? Führe ich ein und lasse ich verschwinden wie ich gerade lustig bin. Streckenweise muss man geduldig, oft sogar tapfer sein. Selbst ambitionierte Leser wie unsereins dürften des öfteren an ihre Grenzen kommen. Ab und zu muss man durchatmen, bei Seite legen, verdauen. Aufgeben ist aber trotzdem nicht drin, dafür ist der Sog, der von „GRM Brainfuck“ ausgeht, zu groß. Am Ende möchte man sich selbst auf die Schulter klopfen, wenn man dieses Wahnsinnswerk bewältigt hat. Und stellt fest, dass die Mühe sich trotzdem gelohnt hat. Weil man mit etwas konfrontiert wurde, sich durch etwas durchgebissen hat, das mit kaum etwas zu vergleichen ist.

Aus filmischer Sicht könnte man sich das so vorstellen: Es gibt eine Handvoll Hauptfiguren und tatsächlich auch eine Handlung. Aber sobald eine Figur nur am Rand des Bildschirms auftaucht, wird man als Zuschauer auch in deren Lebensgeschichte eingespannt. Ein Pärchen, das aus Geldnot einen Amateur-Online-Porno dreht (der am Ende zwei Dollar einspielt). Ein Mann, der seine querschnittsgelähmte Frau und seine zwei Kinder umbringt, weil er sich nicht mehr um sie kümmern kann. Menschen, die in einer Kolonie auf dem Mars leben oder nur noch in der virtuellen Welt ein erträgliches Dasein fristen. Es ist nicht nur sehr, sehr viel was hier passiert, sondern obendrein auch noch wenig Erfreuliches. Denn auch den Hauptcharakteren, allen voran der Gruppe von Jugendlichen Karen, Hannah, Don und Peter, ergeht es insgesamt nicht besser. Ihre Familien sind gescheitert, sie wurden ver- und alleine zurückgelassen, zur Sexarbeit gezwungen, vergewaltigt und misshandelt. Das Schicksal führt sie in Rochdale zusammen, einer heruntergekommen Stadt in Großbritannien, später gehen sie gemeinsam nach London, wo sie in einem leerstehenden Gebäude hausen. Sie hören Grime und planen sich an denen zu rächen, die ihnen Schmerzen zugefügt haben. An Thome, der mit einer von ihm entwickelten App für Sellbstmordgefährdete Hannahs Vater in den Tod trieb. An Peters Mutter, die ihn in Rochdale zurück ließ, um ein neues Leben an der Seite eines reichen Russen zu beginnen. An Walter, dem ehemaligen Freund von Dons Mutter, der mit körperlicher Gewalt versucht hat, sie zu einer guten Christin zu machen. Es gibt viel Nährboden für Rache im Leben von Don, Karen, Peter und Hannah.

Aus ihrer Außenseiterperspektive heraus beobachten sie die Gesellschaft, deren Entwicklung immer absurderer Ausmaße annimmt. Den britischen Bürgern wird ein bedingungsloses Grundeinkommen zugesprochen, aber um dieses zu erhalten, muss man sich registrieren und mit einem Chip versehen lassen. Die erste Internet-Partei kommt an die Macht, ein Avatar wird Britischer Premierminister. Wohnraum ist kaum mehr zu bezahlen, Menschen mieten für horrende Summen Schlafplätze auf der Couch in den Wohnungen der wenigen, die sich solche noch leisten können. Eine Gruppe jugendlicher Hacker versucht eine Revolution anzuzetteln, indem sie die umfassende digitale Überwachung der Bürger öffentlich macht. Aber der Mensch ist gewöhnt sich zu fügen – Hauptsache er kann seinen Tag ungestört am Endgerät verbringen.

Man würde „GRM – Brainfuck“ gerne als Dystopie bezeichnen, das wäre noch annähernd tröstlich. Aber dafür sind wir an den meisten der hier beschriebenen Entwicklungen schon viel zu nahe dran. Ein bisschen wie bei „Black Mirror“, wo gesellschaftlicher und technischer Fortschritt, in dem wir schon mit einem Fuss drin stecken, nur ein kleines Stück weiter gesponnen wird. Nur noch viel gnadenloser, deprimierender, fieser und perverser. Dass Sibylle Berg sich vor keiner noch so grauenvollen Vision scheut ist man von ihr gewohnt. Dass man das überhaupt ertragen kann ist der Empathie geschuldet, die sie bei allem Elend aufzubringen schafft: Es ist immer noch Platz für die menschlichen, fast schon banalen Dinge des Lebens. Für die Liebe und den Schmerz den sie verursacht, wenn sie unerfüllt bleibt. Oder den Frust den es bedeutet, wenn sie erwidert wird und trotzdem nicht die Gefühle liefert, die man sich von ihr verspricht. Karen, Paul, Don und Hannah, zurückgelassen von ihren eigenen Familien versuchen sich gegenseitig eine zu sein. In diesen versöhnlichen Momenten steckt die wahre Größe von Sibylle Bergs Text. Und nicht zuletzt in dem Humor, der sich trotz allem in dem ganzen Irrsinn versteckt.

Eigentlich könnte Sibylle Berg sich nach diesem Werk zur Ruhe setzen. Was soll denn danach noch kommen? Aber so produktiv wie sie ist, denkt sie sich gerade wahrscheinlich die nächste Verrücktheit aus. „GRM – Brainfuck“ steht in seinem Wahnsinn, seinem Stil, seinem Inhalt und seinem Umfang völlig für sich allein und macht obendrein seinem Namen alle Ehre. Beim Lesen möchte man Sibylle Berg abwechselnd verfluchen und sich vor ihr verneigen. In Bela B Felsenheimers Roman „Scharnow“ gibt es ein Buch, das Menschen anlockt um sie dann eigenständig zu ermorden. Ein bisschen so kann man sich das vorstellen – man ist regelrecht stolz, dass man diese denkwürdige Lektüre überlebt hat.

„GRM – Brainfuck“ von Sibylle Berg ist bei Kiepenheuer & Witsch erschienen und kann hier käuflich erworben werden. Eine Leseprobe gibt es hier.

Gelesen von: Gabi Rudolph

www.sibylleberg.com