„Sterben“ von Matthias Glasner: Das Leben, der Tod und alles dazwischen

Der Onkel meines Mannes, der einzige noch lebende Verwandte seiner früh verstorbenen Mutter, wurde kürzlich mit Herzbeschwerden ins Krankenhaus eingeliefert. Die Herzkatheter-Untersuchung ergab, dass das Herz des 89-Jährigen, wenn überhaupt, nur durch eine hochriskante Bypass-Operation gerettet werden kann, bei der die Überlebenschancen in seinem Alter bei 50:50 liegen. Die Ärzte baten uns, dabei zu sein, wenn sie ihm die Nachricht überbringen, dass sie nur noch eine medikamentöse Behandlung empfehlen, die aber eine schwer abschätzbare Lebenserwartung bedeutet.

Im Bett also der Onkel, um ihn herum der zuständige Oberarzt, eine Ärztin, mein Mann und ich. Der Arzt, in einem erstaunlich geschmacklosen T-Shirt mit glitzerndem Logo, ringt um die richtigen Worte, um den Ernst der Lage anschaulich und eindringlich zu schildern, während die eher stille Ärztin mit mitleidigem Blick versucht, das nötige Quäntchen Einfühlungsvermögen in die Situation zu bringen. Der Onkel nimmt die Nachricht mit kindlicher Gelassenheit auf, unterbricht, macht Witze und bringt den Arzt damit immer mehr aus dem Konzept. Schließlich steht er auf, um allen zu zeigen, dass er immer noch wunderbare Kniebeugen machen kann, und verkündet lautstark, dass ihm niemand den Brustkorb aufschneiden wird. Als die Ärzte gehen, schlurft er in fleckiger Pyjamahose zur Toilette, und ich starre fassungslos auf seine zu kleinen, pinkfarbenen, mit Plastikblumen verzierten Badeschlappen und denke: Wenn das eine Filmszene wäre, ich weiß nicht, ob man mir das glauben würde.

Ich gehe auf die 50 zu, ich bin umgeben von alten, kranken, gebrechlichen und oft unerträglich sturen Menschen, die Teil meiner Familie sind, und es vergeht gefühlt kaum ein Tag, an dem ich mich nicht in derartig bizarren Situationen wiederfinde. Jemand fällt von der Leiter, bricht sich die Schulter und stirbt daraufhin im Krankenhaus an einer Lungenentzündung. Ein Ehepaar trägt sich regelmäßig gegenseitig auf allen Vieren zur Toilette, braucht aber nach eigener Aussage keine Hilfe im Haushalt. Mein Vater ist 2020 an Corona gestorben, meine Mutter ist querschnittsgelähmt und ruft mich regelmäßig an weil sie entführt wurde, eingesperrt ist oder in ihrem Bett irgendwohin unterwegs ist und nicht weiß, wo sie aussteigen soll. Die Alten und ihre erwachsenen Kinder sind kein besonders präsentes Thema im Film. Alt werden hat schließlich so gar nichts Romantisches an sich, und in der Regel droht es uns allen. Da ist es irgendwie auch legitim, dass man sich zur Zerstreuung lieber den Jungen und Schönen zuwendet. Aber wenn man so mittendrin in all dem steckt, wie ich es gerade tue, dann hat es auch etwas Tröstliches, wenn jemand den Finger auf die Wunde legt und sagt: Es ist nicht schön, aber so ist es, so kommt es unweigerlich, und manchmal birgt das ganze Drama auch eine absurde Komik, wie pinkfarbene Plastikschlappen am Fuß eines alten Mannes. 

Nun hat Matthias Glasner mit „Sterben“ genau so einen Film gemacht, und er hat ihn so gemacht, wie man ihn nur machen kann: direkt, unromantisch, quälend lang, traurig, absurd, manchmal so komisch, dass es weh tut. Mit Figuren, bei denen man manchmal nicht weiß, ob man sie überhaupt mag, ob man mit ihnen fühlen möchte und es dann doch irgendwie tut. Für die es keine Absolution gibt, und doch stellt man plötzlich fest, dass man sie irgendwie lieb hat. Weil wir als Erwachsene natürlich die volle Verantwortung für unser Handeln tragen, aber ein Teil von uns auch unweigerlich die Summe dessen ist, woher wir kommen. Der Film basiert auf Glasners eigene Geschichte, wie er selbst sagt, und die ist zutiefst persönlich und deshalb umso universeller. 

Die Familie Lunies, um die es hier geht, kann man kaum als intakt beschreiben. Mutter Lissy (Corinna Harfouch) versucht mehr schlecht als recht, sich um ihren demenzkranken Mann Gerd (Hans-Uwe Bauer) zu kümmern. Da dieser immer häufiger unbekleidet in der Nachbarschaft umher irrt, muss er schließlich in ein Heim. Sohn Tom (Lars Eidinger) stößt wiederum mit der Bereitschaft, sich um seine alternden Eltern zu kümmern, zunehmend an seine Grenzen. Außerdem ist er damit beschäftigt, sein eigenes Erwachsenenleben zu entwirren. Seine Exfreundin Liv (Anna Berdeke) ist Mutter geworden, Tom ist nicht der Vater, aber den leiblichen Vater kann Liv nicht leiden, weshalb Tom bereitwillig dessen Platz einnimmt. Schade, dass es nicht sein eigenes Kind ist, sagt Lissy, genauso wie das Jugendorchester, das er dirigiert nicht seins ist, auch das findet Lissy schade. Eigentlich läuft es bei Tom ganz gut, er arbeitet gerade mit seinem besten Freund Bernard (Robert Gwisdek), einer depressiven Künstlerseele, an der Uraufführung von dessen Sinfonie „Sterben“. Und trotzdem scheint er für seine Mutter eine endlose Quelle der Enttäuschung zu sein, während seine Schwester Ellen (Lilith Stangenberg) schon immer die leichtere Empfängerin von Lissys Liebe war. Dass Tom sie nicht leiden kann, sagt Lissy in einer entscheidenden Szene, würde sie nicht so sehr wundern, schließlich ginge es ihr mit ihm nicht viel anders. Aber dass Ellen, die sie immer geliebt hat, sie heute auch ablehnt, das trifft sie doch sehr. 

Im Gegensatz zu Tom, der immer wieder versucht, sich seinen vermeintlichen Pflichten als Sohn zu fügen, macht Ellen das, was man wohl als „ihr eigenes Ding“ bezeichnen könnte. Tagsüber ist sie Zahnarzthelferin, nachts zieht sie durch die Kneipen und stürzt sich in eine Affäre mit dem verheirateten Zahnarzt Sebastian (Ronald Zehrfeld). Der findet im feucht-fröhlichen, exzessiven Chaos mit Ellen erst seinen zweiten Frühling, stößt schließlich aber, was den Alkoholkonsum angeht, an seine Grenzen und fordert von Ellen gemeinsame Abstinenz – die sie, wie sie selbst überrascht feststellt, gar nicht will. Ellen ist der Freigeist im familiären Minenfeld, und sie ist es ein großes Stück weit aus Überzeugung. Als sie bei Toms Premiere im Publikum sitzt, bleibt ihr buchstäblich die Luft weg, als würde ihr die Gesellschaft, das Leben selbst, mit bloßer Hand die Kehle zudrücken. 

Man könnte die Geschichte der Familie Lunies durchaus als hoffnungslos bezeichnen. Manch einem mag es nicht leicht fallen, sich mit den Figuren zu verbinden, die so gar nicht nach Sympathie oder gar Mitleid schreien. Aber der Ton, den Matthias Glasner hier findet, ist immer schnörkellos und auf den Punkt. Alt werden ist eines der Themen, aber der Film selbst wirkt in keiner Minute seiner dreistündigen Laufzeit irgendwie angestaubt. Die Szenen im Altersheim funktionieren ebenso gut wie die, in denen sich Ellen ins Nachtleben stürzt. Und die fünfzehnminütige Begegnung am Kaffeetisch, in der Lissy und Tom ihre Beziehung neu definieren, ist so perfekt geschrieben und gespielt, dass einem die Luft weg bleibt. Man möchte weg schauen, kann aber nicht, das Ganze ist zum Weinen und gleichzeitig urkomisch. 

Ich habe „Sterben“ bereits auf der diesjährigen Berlinale gesehen, und es vergeht kaum ein Tag, an dem ich nicht an diesen Film denken muss. Wenn zum zehnten Mal hintereinander die Nummer meiner Mutter auf dem Display aufleuchtet und ich weiß, dass sie gerade in Not ist, ich aber trotzdem nicht rangehe. Wenn meine Stiefschwiegermutter mich ansieht und ich sehe, wie es in ihr arbeitet auf der Suche nach ein paar netten Worten, aber am Ende doch wieder nur eine Beleidigung herauskommt.

„Sterben“ ist so nah am Leben wie kaum ein anderer Film, den ich in den letzten Jahren gesehen habe. Er romantisiert nicht, er verklärt nicht, er liefert keine Lösungen, dafür umso mehr Fragen. Die Antworten darauf muss jeder für sich selbst finden. Es ist eines dieser seltenen Kinoerlebnisse, bei denen man sich am Ende irgendwie klüger fühlt, als hätte man neue Erkenntnisse gewonnen – über sich selbst, über das Leben, den Tod und alles dazwischen. 

„Sterben“ läuft seit dem 25. April 2024 in den deutschen Kinos.