Gute Popmusik atmet ja gerne den Geist der Teenagerzeit. Zu keiner Zeit sind die Emotionen größer als zu jener von Sturm und Drang geprägten Lebensphase. Freude, Trauer, Liebeskummer, alles unter dem Vergrößerungsglas. Dass aber tatsächlich ein Teenager selbst daher kommt und die Welt der Popmusik aus den Angeln hebt, das kommt dann doch eher selten vor.
2013 war sie plötzlich da, Ella Yelich aus Neuseeland, genannt Lorde, sie war damals 16 Jahre alt und brachte mit ihrem Debütalbum „Pure Heroine“ die halbe Welt um den Verstand. Mit ihrer eigenen Interpretation urbaner Popmusik schaffte sie es unter anderem als jüngste Solokünstlerin der Geschichte bis auf Platz 1 der amerikanischen Billboard Charts. „Pure Heroine“ war ein gelungenes Debüt, eigenständig, scharfsinnig, voll gut geschriebener Popsongs. Dazu kommt etwas in Lordes Stimme, das irgendwie besonders ist. Und wer Lorde dann noch live erlebt, lernt eine für ihr Alter unglaublich mutige, selbstbewusste, extrem weit entwickelte Künstlerin kennen. Lorde tanzt, wie andere in ihrem Alter es sich höchstens Zuhause vor dem Schlafzimmerspiegel trauen.
Für ihr zweites Album ließ Lorde sich Zeit. So ein junges Leben will ja auch gelebt werden, damit man am Ende etwas zu erzählen hat. Jetzt ist Lorde 20 und „Melodrama“ da, und es strotzt noch mehr von dieser emotionalen Ungestümheit, die man schon vor vier Jahren an ihr bewundern durfte. Manche Songs auf „Melodrama“ sind solide und gut und damit trotzdem besser als das meiste, was die weibliche Popwelt aktuell zu bieten hat. Andere sind wahre Perlen, kleine Ausnahmeerscheinungen, die einen regelrecht in Staunen versetzen. Im Ganzen gehört entwickelt „Melodrama“ einen unwiderstehliche Sog. Es hat einen dramaturgischen Bogen, den Lorde selbst mit dem Verlauf einer ausufernden Hausparty beschreibt. Ein Wirbel von Emotionen: unglückliche Verliebtheit, wilde Tanzwut, erschöpftes Nachglimmen. Man fühlt sich unmittelbar zurückversetzt in die Zeit, in der ein einziger Tanz alles bedeuten konnte.
Und dann hat Lorde noch einen entscheidenden Schritt im Vergleich zu ihrem Debüt gemacht: sie hat die Altklugheit abgelegt, über die man inhaltlich manchmal bei ihr stolperte, die aber für Teenager nunmal auch typisch ist. Die Attitüde, total bescheid zu wissen. Auf „Melodrama“ wirkt sie ehrlicher, mehr bei sich angekommen. Sie vereint Kühnheit und Stärke (wie zum Beispiel in „Supercut“) mit nahezu rührender Verletzlichkeit (herzzerreißend: die zweite Single „Liability“). Dieses Spiel auf der musikalischen und emotionalen Klaviatur macht sie zu einer wunderbaren Ausnahmekünstlerin. Auch als Produzentin legte sie (nicht ohne Unterstützung) dieses Mal selbst Hand an. „I’m a little much vor everyone“, singt sie in „Liability“. Ach Lorde, zu viel geht gar nicht. Einfach so weitermachen, bitte.
VÖ: 16.06.2017
Gehört von: Gabi Rudolph