„Blue Bayou“ von Justin Chon: Identität, Herkunft und Heimat

Stell dir vor, du lebst seit du dich erinnern kannst in einem Land, das du deine Heimat nennst. Du bist verheiratet, hast Kinder, schlägst dich durchs Leben. Und dann kommt jemand, dem deine Hautfarbe oder dein Handeln nicht passt und macht dir das Leben zur Hölle. Die Folgen: Du wirst in ein Land abgeschoben, dass du weder kennst noch irgendwelche Berührungspunkte mit diesem hast. Eine schreckliche Vorstellung und doch muss sich Antonio (Justin Chon) genau mit dieser Situation auseinandersetzen.

„Blue Bayou“ versucht sich dieser Thematik auf sentimentale und herzzerreißende Art und Weise zu nähern. Antonio wurde in Korea geboren und als Kleinkind in die USA adoptiert. Er wuchs in Louisiana auf. Sein Verhältnis zu seinen Adoptiveltern war nie wirklich das Beste, und so gerät Antonio schnell auf die schiefe Bahn und klaut Motorräder. Das ändert sich, als er Kathy (Alicia Vikander) und ihre kleine Tochter aus erster Ehe kennenlernt. Kathy und Antonio heiraten und gründen selbst eine Familie. Obwohl Antonio nur wenig Geld verdient, scheint die kleine Familie glücklich zu sein. Doch als Antonio mit Kathys Ex-Mann und dessen Polizisten-Kumpel in Streit gerät, wird Antonio einen Gesetzeslücke zum Verhängnis. Er wird verhaftet und bekommt die Einwanderungsbehörde auf den Hals gehetzt. 

Unliebsame Amerikaner

In den USA ist es so, dass Kinder aus dem Ausland, die von amerikanischen Eltern adoptiert wurden, nicht automatisch amerikanische Staatsbürger werden. So passiert es nicht selten, dass Adoptierte im Erwachsenenalter plötzlich „illegal“ im Land sind und im schlimmsten Fall in ihr “Heimatland” abgeschoben werden. Zwar schützt  der 2000 eingeführte „Child Citizenship Act“ alle im Ausland nach Amerika adoptierten Kinder und spricht ihnen eine amerikanische Staatsbürgerschaft zu. Allerdings hat dieses Gesetz einen Haken: Stichtag für das Inkrafttreten des „Child Citizenship Act“ war der 27. Februar 2001. Alle Kinder, die an diesem Tag unter 18 Jahre alt waren (also am oder nach dem 28. Februar 1983 geboren wurde) konnten automatisch die US-Staatsbürgerschaft erwerben. Alle Kinder, die zu diesem Zeitpunkt älter als 18 Jahre waren, also vor dem 27. Februar 1983 geboren wurden, bekommen die Staatsbürgerschaft nicht und sind de facto illegal im Land. So kann sich die USA auch heute noch seinen unliebsamen “Amerikanern” legal entledigen. Der Figur Antonio ging es genauso – und es ist nur eine von Tausenden Geschichten. 

Herzschmerz pur und die leise Explosion

Man kann es als Schwäche oder aber eben auch als Stärke des Films sehen: Er drückt gewaltig auf die Tränendrüse. Noch nie hat mich ein Drama so sehr zerrissen, wie „Blue Bayou“. Am Ende stand mir nicht nur die Fassungslosigkeit im Gesicht, sondern auch die Tränen. Ich persönlich empfinde es als Stärke des Films. Ein Film sollte mich nicht nur subtil und seicht unterhalten, sondern ich will berührt werden. Ich will nachdenken können, ich will in der Stille den großen Knall hören. Die meisten Hollywood-Filme setzen auf großes Tam Tam. Ihm Gegenüber stehen die “leisen” Filme, wie ich sie gerne nenne. Doch “leise” trifft in diesem Fall nicht wirklich zu. Denn: „Blue Bayou“ hat es geschafft mithilfe seiner Story, der Kameraführung und den Darsteller*innen eine Explosion der Gefühle in mir zu wecken – ohne Actionszenen und Spezialeffekte. Und das macht einen guten Film für mich aus: er bewegt mich.

Einen großen Teil dazu beigetragen hat unter anderem das Spiel zwischen Antonio und seiner Stieftochter, die von Sydney Kowalske verkörpert wird.  Trotz ihres jungen Alters hat Sydney ihre großen Schauspielkolleg*innen alle an die Wand gespielt. Gerade (Achtung, Spoiler!) in der Schlussszene am Flughafen beim Abschied von Antonio ist sie grandios. Ihre breite Palette an Emotionen steht einem eher reduzierten Spektrum an Gefühlen von Antonio gegenüber. Böse Zungen könnten jetzt behaupten, dass der Charakter des Antonio eher eindimensional gezeichnet ist, aber Antonio und seine Stieftochter ergänzen sich genau in diesem Bereich. Seine vermeintliche Eindimensionalität wird durch die Tiefe des Charakters der Stieftochter wett gemacht. Und sind wir mal ehrlich: Antonio hat in dem Moment, in dem wir ihm als Zuschauer*innen begegnen, nicht wirklich viel zum Lachen.  Vereinzelt sehen wir ihn glücklich und zwar immer dann, wenn er mit seinen Kindern und seiner Frau zusammen ist.

Der Herzschmerz wird aber nicht nur allein durch die Story oder die Darbietungen der hervorgerufen, sondern auch durch zwei andere Dinge: die Kameraführung und die Bildgebung. Die Kamera ist den ganzen Film über wie eine zweite Haut. Sie ist immer nah an den Figuren und lässt diese kaum los. Wir sehen sehr viele Close-Ups und Detailaufnahmen, nur selten fährt die Kamera in die Totale. Das Publikum ist also immer nah an den Figuren und immer der stille Beobachter im Raum. Die Kamera impliziert Nähe und damit fällt es leichter, eine gewisse Empathie mit den Figuren aufzubauen. Zu einer eher depressiven aber der Story passenden Stimmung trägt die Bildgebung von „Blue Bayou“ bei. Die Farben sind gedeckt und kühl, die Stimmung wirkt durch die tonale Untermalung eher verhalten – und am Ende kommt der große emotionsgeladene Knall. Einziger Kritikpunkt: Durch dieses Wechselbad der Gefühle geht die Freundschaft zwischen Antonio und der krebskranken Parker unter. Der Handlungsstrang von Parker wirkt fehl am Platz, beziehungsweise verwirrt Parkers Anwesenheit in der Storyline etwas. 

Fazit

„Blue Bayou“ ist einer dieser Filme, die man entweder liebt oder hasst: Er ist kitschig und herzzerreißend emotional. Justin Chon, der nicht nur die Hauptrolle spielt, sondern auch Regie geführt hat, zieht alle Register und will den Zuschauer zum Heulen bringen. Kamera, Darsteller*innen, Bildgebung, Story: alles wirkt stimmig. Als kleines Goodie bekommt der Zuschauer noch eine singende Alicia Vikander (sie singt auf einer Gartenparty den titelgebenden 60er Jahre Song). Fernab klassischer Hollywood-Manier schafft „Blue Bayou“ auf der Kinoleinwand  eine Explosion der Gefühle.

Kinostart: 10. März 2021

Wer mehr über den Film und meine Meinung dazu wissen möchte, der kann sich den Podcast „Popcorn & Lakritz“ anhören. Darin bin ich zu Gast auf Jens‘ Couch und spreche über meine Eindrücke zu „Blue Bayou“.