Erwachsen werden ist schon schwer genug. Davon haben bereits unzählige Coming of Age Filme und Bücher berichtet. Richtig kompliziert wird es aber, wenn man eigentlich wie ein ganz normaler Teenager sein Leben leben möchte, aber einem die eigenen Bedürfnisse dabei immer wieder in die Quere kommen.
Bedürfnisse, die sich nicht mit den sozialen und moralischen Grundsätzen der Gesellschaft vereinbaren lassen, gibt es zuhauf und in verschiedensten Ausprägungen. Maren, die Hauptfigur in Luca Guadagninos neuem Film „Bones and All“, leidet unter dem unvorstellbarsten von allen: sie knabbert gerne an ihren Mitmenschen herum, besonders an solchen, zu denen sie sich hingezogen fühlt. So wird in den ersten Minuten des Films sofort deutlich, dass Marens Vater nicht einfach nur ein besorgtes, alleinerziehendes Elternteil ist, das seine Tochter aus Überfürsorge vom sozialen Leben fern halten will. Denn das erste Date im neuen Wohnort mit einer neugewonnen Freundin, für das Maren heimlich aus dem Fenster steigt, endet mit einem genüsslich abgebissenen Finger.
Ebenso schnell deutlich wird, dass Maren und ihr Vater aus genau diesem Grund nicht zum ersten Mal den Wohnort gewechselt haben – und dass es für ihn das letzte Mal sein wird. Als Maren kurze Zeit später in der neuen Behelfsbehausung wach wird, ist ihr Vater verschwunden. Er hinterlässt ihr etwas Geld, ihre Geburtsurkunde, einen Walkman und eine Kassette, auf der er ihr das komplette Ausmaß des Dramas ihres Lebens erzählt (angefangen bei einer aufgegessenen Babysitterin) und ihr Hinweise hinterlässt, wo sie ihre Mutter finden könnte. Maren investiert das Geld in ein Busticket und macht sich auf den Weg, ihre Herkunft zu erkunden.
Als sie unterwegs den etwas seltsamen älteren Herrn Sully trifft, der behauptet, sie schon von Weitem gerochen zu haben, macht sie die erste erstaunliche Entdeckung: entgegen dem, was sie ihr ganzes Leben lang geglaubt hat, ist sie mit ihrem Hunger nach Menschenfleisch nicht allein. Sie nimmt mit ihm nicht nur ihr erstes gemeinsames Mahl ein, sondern lernt von ihm auch einen entscheidenden Ehrenkodex: Menschenfresser tun sich nie untereinander gütlich. Das erleichtert die Annäherung, als Maren kurze Zeit später auf ihrer Reise Lee kennenlernt. Die beiden fühlen sich zueinander hingezogen, eine jugendliche Liebesbeziehung bahnt sich an. Aber in der Begegnung mit Lee zeigt sich auch, dass Kannibale nicht gleich Kannibale ist. Während der schüchterne Sully nie tötet, dafür aber riechen kann, wenn jemandes Todes unmittelbar bevorsteht und entsprechend auf seine Stunde wartet, sucht Lee sich seine Opfer gezielt aus und tötet sie mit ebenso viel Genuss, wie er sie hinterher verzehrt. Zur Beruhigung seines Gewissens wählt er solche, von denen er glaubt, dass sie es irgendwie verdient haben. Bald zeigt sich, ass sich das nicht so eindeutig kategorisieren lässt. Und Maren selbst weiß noch so überhaupt nicht, zu welcher Sorte Kannibale sie eigentlich gehören soll.
Maren und Lee sind zwei verlorene Seelen auf einer ziellosen Reise durch ein oftmals trostloses Amerika, mit grundmenschlichen, zeitlosen Problemen wie Einsamkeit, Perspektivlosigkeit und dem Gefühl, nirgendwo wirklich hinzugehören. Dass sie ganz nebenbei auch noch den Drang haben, ihre Mitmenschen aufzuessen, wirkt im Lauf des Films fast wie eine Nebensächlichkeit. Luca Guadagnino ist Genre-technisch sowohl im Coming of Age („Call Me By Your Name“) als auch im Horror („Suspiria“) beheimatet. In „Bones and All“ beweist er, dass er das Handwerk besetzt, beides miteinander zu vereinbaren. Die Stärke des Films liegt aber trotzdem mehr im menschlichen Miteinander der Figuren als im genüsslich, blutigen Geschmatze, das meist eher eklig als schockierend, manchmal auch ein wenig unfreiwillig komisch wirkt. Die Wiedervereinigung mit dem von ihm für „Call Me By Your Name“ entdeckten, inzwischen zum Superstar avancierten Timothée Chalamet ist natürlich ein Geniestreich, der kaum schiefgehen kann. Chalamets stärkste Darbietung ist sein Lee jedoch nicht. Tatsächlich kommt zum ersten Mal das Gefühl auf, dass er sich auf gewisse wiederkehrende Muster beschränkt, von denen er weiß, dass sie funktionieren. Eines davon ist sein betont unnuanciertes Wegsprechen, das in diesem Fall leider oft in einem kaum zu verstehenden Nuscheln kulminiert.
Das ist aber auch alles nicht so tragisch, denn der große Star des Films ist diesmal Taylor Russell („Waves“) als Maren, die die Ratlosigkeit gegenüber der eigenen Existenz und die Qual der damit verbundenen Einsamkeit schmerzlich spürbar macht. Überhaupt ist es der grundmenschliche Blick auf die Personen, der „Bones and All“ sehenswert macht, sowie die für Guadagnino eigene Ästhetik, die stets wie ein Spiegelbild des Innenlebens seiner Protagonist*innen wirkt. Ebenfalls typisch für ihn ist die ruhige Erzählweise, das Fehlen eines klassischen Spannungsbogens, selbst die wenigen Schockmomente passieren mehr beiläufig. Wer einen Horrorschocker erwartet, wird enttäuscht werden, denn die Fleischeslust fungiert mehr als universelles Symbol. Hunger haben wir alle, und wenn er nicht gestillt werden kann, ist es die Trostlosigkeit, die zurückbleibt.