Als ich beim Protestzug für die Unterstützung der wirtschaftlich schwer getroffenen Livemusik-Branche mitgelaufen bin, haben mich zwei Freundinnen begleitet. Die eine arbeitet seit neun Jahren als selbständige Live-Promoterin und kämpft sich seit Mitte März mit Förderungen und spärlichen Aufträgen durch. Zwischendurch bewirbt sie sich auf Bürojobs, hält die Augen auf nach neuen Perspektiven und überlegt, wie lange sie das wohl noch so weitermachen kann. Die andere kommt aus Paris, ich habe sie 2018 kennengelernt, in der ersten Reihe bei einem Jack White Konzert in London. Sie trug Flip-Flops und trotzte den von wilden, englischen Konzertgängern ausgehenden Gefahren, die ihren nackten Zehen drohten, mit bewundernswertem Gleichmut. In den vergangenen zwei Jahren sind wir sehr enge Freunde geworden und waren gemeinsam auf vielen Konzerten, in Städten wie Paris, Brüssel, London, Berlin und Köln.
Am Morgen fragt mich jemand, ob es nicht einen bitteren Beigeschmack habe, an diesem Tag für das Überleben der Unterhaltungsindustrie zu demonstrieren, während Bilder des brennenden Flüchtlingslagers Moria um die Welt gehen. Hat das überhaupt noch seine Berechtigung im Anblick einer humanitären Tragödie unerträglichen Ausmaßes? Ich habe auch darüber nachgedacht, kann aber sagen, dass ich mich, was Empathie und soziales Bewusstsein angeht, als multitaskingfähig sehe – und Whataboutism der sichere Tod eines jeden empathischen Diskurses ist. Ich bin an diesem Tag auf die Straße gegangen, weil Livemusik für mich nicht nur Zerstreuung und Unterhaltung ist. Sie ist ein wichtiger Teil meiner Persönlichkeit. Wenn es sie nicht gäbe, wäre mein Leben mit Sicherheit anders verlaufen. Einen großen Teil meiner besten Freunde habe ich auf und über Konzerte kennengelernt. Mein Mann und ich haben uns vor 18 Jahren zum ersten Mal nach einem Konzert geküsst. Die Möglichkeit, mich mit anderen Menschen durch das gemeinsame Erleben von Musik zu verbinden, spielt für meine geistige Gesundheit eine wichtige Rolle. Nach einem guten Konzert bin ich, ganz billig formuliert, ein neuer Mensch.
Auf einem „richtigen“ Konzert war ich zuletzt Ende Februar, da habe ich in der ausverkauften Manchester Arena The 1975 gesehen. Allein ohne das Wissen, dass nur wenige Wochen später mein Leben nicht mehr so sein würde wie früher, hat diese Show eine ganz besondere Bedeutung für mich. Ich bin dort gemeinsam mit einer Freundin, die ich 2018 auf einem Broken Social Scene Konzert in einem kleinen Club in Leeds kennengelernt habe (ja, es war ein gutes Jahr, um Menschen auf Konzerten kennenzulernen). Sie lebt in Manchester, ist 15 Jahre jünger als ich, und trotzdem verbindet uns so viel, dass wir fast jeden Tag Kontakt haben. Ich verbringe das Wochenende mit ihr, ihrem Mann und ihren zwei Kindern, es fühlt sich an wie Familie. The 1975 kommen aus Manchester, ich liebe Homecoming Konzerte, und es war diese Band, die ich im Vorjahr immer gehört habe, wenn es mir nicht so gut ging. Dazu gab es leider zahlreiche Anlässe, es war das Jahr, in dem meine Mutter beinah gestorben wäre, zum Pflegefall wurde und gemeinsam mit meinem dementen Vater in ein Heim umziehen musste. Das Konzert sollte mein großer kathartischer Moment werden, der indem sich all das entlädt und ab dem es endlich wieder bergauf geht. Ersteres trifft ein, letzteres leider nicht.
Nicht nur für mich war 2019 ein hartes Jahr. Mein Vater hat sich lange schwer damit getan, den Umzug ins Heim zu akzeptieren. Meine Mutter ist seit einer schweren Sepsis querschnittsgelähmt und meistens sogar zu schwach um im Rollstuhl zu sitzen. Um die Weihnachtszeit äußere ich meinem Mann gegenüber den Wunsch, dass wir alle miteinander ein ruhigeres, für alle Parteien friedlicheres 2020 erleben dürfen. Bei meinen Eltern scheint endlich ein wenig Ruhe eingekehrt, ich bin zuversichtlich. Im April 2020 stirbt mein Vater dann an COVID-19, nachdem meine Mutter und er sich im Heim mit dem Coronavirus infiziert haben. Er war 87 Jahre alt, litt unter Demenz und leichtem Asthma. Ich werde in den nächsten Monaten oft gefragt, wie alt er war und ob er Vorerkrankungen hatte. Meine Antwort ist immer die gleiche: es spielt keine Rolle. Wäre Corona nicht gewesen, wäre er vielleicht auch nur 87 geworden. Oder 100, wer weiß das schon? Was zählt ist, dass er zum Zeitpunkt seines Todes endlich wieder einigermaßen zufrieden war. Ich. bin mir sicher, er hätte gerne noch ein wenig länger in seinem Sessel gesessen und zusammen mit meiner Mutter Tierdokumentationen angesehen. Wenn er sich nicht mit Corona infiziert hätte, wäre er nicht innerhalb einer Woche gestorben und ja, das macht auch in seinem Alter einen Unterschied, denn wir hätten alle gerne noch ein bisschen mehr Zeit mit ihm gehabt.
Zwei Dinge sind mir nach dem Tod meines Vaters am schwersten gefallen: zum einen, die Einsamkeit seines Todes zu verkraften und zu akzeptieren, dass er gestorben ist, ohne dass ich ihn ein letztes Mal sehen konnte. Und zum anderen, das gebe ich ganz offen zu, dass ich nicht die Möglichkeit habe, mich auf die Weise abzulenken, wie ich es gewöhnt bin und wie es mir am besten tut – auf ein Konzert zu gehen und mir die Seele aus dem Leib zu tanzen, zu singen und zu schreien. Es gibt bis heute Momente, in denen ich die Stille, die Unbeweglichkeit unerträglich finde. Ich habe das große Glück, eine Familie und Freunde zu haben, die mich auffangen. Und natürlich kann ich jederzeit Musik hören und wenn ich will dazu in meinem Wohnzimmer tanzen. Es ist nicht dasselbe. Immer ist da diese Lücke, die ich nicht richtig gefüllt bekomme.
Inzwischen gibt es Versuche, mithilfe von neuen Konzepten wieder Konzerte zu veranstalten. Ich habe mir ein paar davon angesehen, und ich bin unglaublich dankbar für die Menschen, Organisatoren wie Künstler, die den Idealismus aufbringen, derartige Veranstaltungen umzusetzen. Jedes Mal bin ich mit einem Gefühl zwischen Hoffnung und tiefer Trauer nach Hause gegangen. Ganz ehrlich? Ich hasse Social Distancing. Ich brauche die Nähe zu anderen Menschen, auch zu Fremden. Das Gefühl, Teil einer homogenen Masse zu sein, die miteinander ähnliche Dynamiken und ähnliche Gefühle entwickelt, ist die beste Therapie für mich. Wenn man mir das zu lange weg nimmt, habe ich das Gefühl, dass ein Teil von mir verkümmert. Als auf Social Media Bilder vom ersten großen Social Distancing Konzert in England die Runde machen, bei dem das Publikum in Grüppchen unterteilt auf umzäunten Plattformen sitzt, bin ich schrecklich deprimiert. Noch deprimierter bin ich als ich lese, dass es tatsächlich Menschen gibt, die dieses Modell völlig okay, wenn nicht sogar besser, weil viel komfortabler finden.
Auf ein Konzert zu gehen bedeutet für mich die Möglichkeit, mit einer völlig fremden Person neben mir eine lebensverändernde Freundschaft zu schließen. Es bedeutet, neben einem fünfzehnjährigen Mädchen zu stehen, das mir ihr Herz darüber ausschüttet, wie gerne sie den Frontmann küssen würde. Denjenigen neben mir aus den Augenwinkeln zu beobachten und in seinem Gesicht zu lesen, dass wir gerade dasselbe fühlen. Die Vorstellung, dass es noch lange dauern kann, bis wir das so wieder erleben dürfen, macht mich sehr traurig. Manchmal habe ich Angst, dass es nie wieder so sein wird.
Ich schreibe das alles nicht, weil ich sagen möchte, dass wir von heute auf morgen die Maßnahmen abschaffen sollen, damit ich endlich wieder auf Konzerte gehen kann. Ich weiß so ziemlich aus erster Hand, wie gefährlich das Virus ist. Aber ich werde auch ein bisschen fuchsig, wenn jemand mir sagen will, dass wir im Moment doch wirklich andere Probleme haben – womit wir wieder beim Whataboutism wären. Eigentlich sollten wir in Zeiten einer globalen Pandemie, die es verlangt, dass wir physisch voneinander Abstand nehmen, mehr denn je darauf achten, dass wir im Gegenzug emotional so eng wie möglich zusammen rutschen. Was dabei herauskommt wenn wir das nicht tun, kann man leider gut beobachten: Menschen, die meinen, gegen das Tragen von Masken demonstrieren zu müssen, weil sie ihre persönliche Freiheit von einem Stück Stoff vor dem Mund eingeschränkt sehen. Solche die glauben, Black Lives Matter Demos bräuchten wir nicht, weil sie nichts mit unserer hiesigen Realität zu tun haben. Überhaupt Menschen, die sich selbst über alles stellen und ihren Egoismus passiv-aggressiv unter dem Deckmantel von Liebe und Freiheit ausleben. Das sind dann die Momente in denen ich denke, selbst ich möchte auch nicht mit jedem Schulter an Schulter stehen.
Einen Monat nach dem Tod meines Vaters spreche ich am Telefon mit The 1975 Frontmann Matty Healy (ein Paradebeispiel dafür, wie verrückt ineinander verquickt und gleichzeitig sinnig manche Dinge in meinem Leben sind). Als ich ihm erzähle, dass seine Show die letzte war, die ich vor dem – hoffentlich temporären – Ende der Livemusik gesehen habe, ruft er mir ungläubig „shit, man!“ ins Ohr. Ich frage ihn, wie die Situation für ihn ist, der er es gewöhnt ist, fast jeden Abend auf die Bühne zu gehen, was ich mir noch viel schwerer vorstelle als mein Leid als reiner Konsument. Aber er betont sofort, dass es hier gerade um mehr geht als um sein persönliches Bedürfnis, sich auf der Bühne auszuleben. Und ich denke seitdem oft: verdammt! Wenn jemand, der die letzten Jahre täglich damit zugebracht hat der Mittelpunkt seines eigenen Universums zu sein und dem gerade eine komplette Welttournee geplatzt ist es schafft, einen Schritt von sich beiseite zu treten und das große Ganze zu sehen, dann sollte Anneliese Müller, die weiter relativ ungestört ihrer Arbeit in ihrer Heilpraktiker-Praxis nachgehen darf, doch auch dazu in der Lage sein.
Ich hoffe sehr, dass die Demonstration etwas bewegt hat und die Eventbranche die staatliche Unterstützung erfährt, die sie benötig um durchzuhalten, so lange es nötig sein sollte. Wenn es dann soweit ist und wir uns endlich wieder Körper an Körper vor der Bühne begegnen können und ihr trefft mich irgendwo, dann kommt bitte vorbei und sagt hallo. Ich freue mich auf den Tag, an dem ich wieder bedenkenlos Umarmungen verteilen kann, an Freunde und an Fremde, die dadurch vielleicht zukünftige Freunde werden.