Von London über Amsterdam nach Paris: Jack Whites „Boarding House Reach“ Tour

London, 27.06.2018

Ich fürchte ich bin traumatisiert, seitdem vor zwei Jahren Prince gestorben ist. Weil ich in den letzten Jahren vor seinem plötzlichen Tod diverse Gelegenheiten verpasst habe, ihn noch einmal auf der Bühne zu sehen. Weil ich dachte: die nächste Gelegenheit kommt bestimmt. Und plötzlich war er da, der Moment, in dem mir schmerzlich bewusst wurde: sie kommt nicht mehr. 2010 habe ich Prince zum unwiederbringlich letzten Mal live gesehen. Es war eines der besten Konzerte, das ich je von ihm gesehen habe – was habe ich damals gedacht, was noch alles kommen würde.

Es mag sein, dass ich seitdem ein bisschen haltlos geworden bin, wenn es darum geht, Künstler, die ich verehre, live zu erleben. Diese Handvoll (wenn überhaupt) Musiker, die mich mit ihrer Performance auf den Kopf stellen, mich in einen rauschartigen Zustand versetzen. Wie auf Droge, ein Abend lang Ekstase, danach ein leichter Crash, Entzugserscheinungen und immer schneller das dringende Bedürfnis nach mehr. Ich kämpfe gegen dieses Bedürfnis nicht mehr an, ich gebe ihm schamlos nach. Ich binge watche Konzerte wie andere Leute Netflix Serien. Und ich liebe Jack White. Ich halte ihn seit dem Tod von Prince für den größten lebenden Live-Musiker unserer Zeit. Auf seiner letzten Europa-Tour 2014 habe ich ihn zweimal live gesehen. Viel zu wenig, wie ich hinterher feststellen musste. Vor allem nachdem er im Anschluss an die Tour seinen Live-Hiatu für unbestimmte Zeit verkündet hatte. Dieses Jahr hat Jack White sein neues Album „Boarding House Reach“ veröffentlicht und endlich wieder eine Reihe von Europa-Konzerten angekündigt. Der aufmerksame Leser dürfte an dieser Stelle locker schlussfolgern, was das mit mir angestellt hat.

Ich sitze also nachmittags in London mit Leuten aus Frankreich, Schottland und Polen in der Sonne, Menschen, die ich vor ein paar Minuten erst kennengelernt habe und mit denen ich mir auf Anhieb viel zu erzählen habe. Weil wir alle nur nach London gekommen sind, um Jack White live zu erleben. So ein kleiner gemeinsamer Nenner reicht völlig aus, um quasi wildfremde Menschen von null auf hundert in stundenlangen Gesprächen zu verwickeln. Eine Woche später sitze ich in Amsterdam auf einem Hausboot mit zwei meiner besten Freundinnen und warte darauf, dass meine holländischen Freunde, die ich vor vier Jahren bei einem Jack White Konzert in Brüssel kennengelernt habe, uns mit dem Auto zum Venue abholen. Das Mädchen aus Paris, das ich die Woche zuvor in London kennengelernt hatte, die einzige Person, die ich je todesmutig in Flip-Flops auf einem Rockkonzert gesehen habe, wartet dort schon auf uns. Einen Abend später, nach der ersten von zwei Jack White Shows im L’Olympia Paris, sitzen wir zusammen in einem dieser typischen Pariser Straßencafés, bei Eis und Limonade, verschwitzt und euphorisiert, und können jetzt schon den nächsten Abend kaum erwarten.

Amsterdam, 02.07.2018

Ich habe in zwei Wochen fünf Jack White Shows in drei Ländern gesehen. Und auch wenn mir heute noch der Rücken weh tut wegen dem Typen, der mir beim Crowdsurfen auf den Kopf gefallen ist, auch wenn unser Airbnb in Paris eine echt abgeranzte Bude war und ich in Amsterdam mitten in der Nacht mit heruntergelassener Hose vor einer Riesenspinne aus dem Klo geflüchtet bin – gib mir zwei Tage Pause und ich würde mindestens nochmal so viele dran hängen. Ich habe noch nicht herausgefunden wo meine Obergrenze liegt, gefühlt könnte ich endlos weiter machen.

Welch köstlicher Rausch! Es gibt kaum einen Jack White Song, aus welcher seiner Bands auch immer, der mir nicht etwas bedeutet. Und wenn man mehrere seiner Shows hintereinander sieht, dann bekommt man sehr viele davon zu hören. Welche das am Abend sein werden entscheidet er stets spontan – ohne feste Abfolge, ohne vorige Absprache. Seiner kongenialen Band (zur Zeit bestehend aus Dominic Davis am Bass, Quincy McCrary und Neal Evans an den Tasten sowie Carla Azar, der bezauberndsten Schlagzeugerin seit Meg White) fordert das ein Höchstmaß an Konzentration ab. Mal wird der nächste Song auf Zuruf abgesprochen, mal per Handzeichen, oft erschließt er sich für die Band erst aus den ersten Akkorden, die er auf der Gitarre anschlägt. Diese permanente Alarmbereitschaft, in der alle Mitwirkenden sich befinden schafft eine Elektrizität, die bis in die Fingerspitzen kribbelt. Immer wieder fahre ich mir mit der Hand durch die Haare, weil ich das Gefühl habe, sie müssten mir eigentlich zu Berge stehen.

Und wie wunderbar frei sie sind, unsere Hände! Vor jeder Show werden alle Handys in sogenannte Yondr-Pouches gepackt und mit einem Magnetclip verschlossen, der sich nur mithilfe einer entsprechenden Vorrichtung öffnen lässt. Keine Fotos, keine Videos, kein zwischendrin mal kurz Nachrichten checken. Nervig? Keineswegs. Das Wegpacken des Telefons wird schon bei der ersten Show zum lieb gewonnenen Ritual. Denn schon beim Einlass setzt damit die volle Konzentration auf das ein, was vor uns liegt. Und wie kommunikativ die Leute plötzlich werden! Als würde man sich plötzlich daran erinnern, dass man einander auch ins Gesicht schauen kann, statt ständig nur auf sein Telefon zu gucken. Davon wie befreiend es ist, sich während des Konzerts in einer Menge zu befinden, die nicht überall von kleinen Bildschirmen erleuchtet ist, mal ganz abgesehen. Sie tobt, sie tanzt und schwitzt, und manchmal umarmt man auch spontan jemanden, den man gerade erst kennengelernt hat.

London, 28.06.2018

Jeden Abend werden wir zu einer emotional homogenen Masse, die nur ein Ziel hat: diese Nacht zu feiern, die Musik zu leben. Denn so musikalisch beeindruckend, so perfektionistisch eine Jack White Show ist, so impulsiv emotional wie er selbst ist sie auch. Jeden Abend lässt er sich aufs Neue auf uns ein und wir uns damit auf ihn. Manchmal wirkt er wie kurz vor der Raserei, stürmt wie ein Verrückter über die Bühne, seine Stimme überschlägt sich, die Soli klingen regelrecht wütend. Wenn etwas nicht so klappt wie er es möchte, fliegt schon mal ein Gitarrenständer durch die Gegend. Dann plötzlich fährt er das Tempo herunter, singt „We’re Going To Be Friends“ und ruft seine Schlagzeugerin Carla zu sich. Sie sitzen gemeinsam am Bühnenrand, er legt den Arm um sie, sie lächelt, sie weint, er dreht sie im Tanz, sie umarmen sich wie ein altes Ehepaar. Alles liegt hier direkt nebeneinander, jede Form der Emotion hat ihre Berechtigung – die Musik wird zum Leben, das ganze Leben zur Musik.

In Amsterdam wirkt er entspannter, zeitweise jammt er mit seiner Band vor sich hin, als habe er das Publikum fast vergessen. Überhaupt wirkt Jack White auf der Bühne weniger extrovertiert als man es annehmen würde. Sein Gesicht bleibt meist hinter seinem explodierten Haarschopf verborgen, er agiert mehr mit seiner Band als mit dem Publikum. Das heißt aber nicht, dass er uns nicht wahr nimmt, im Gegenteil. Je mehr wir ihm geben, desto mehr kommt auch von ihm zurück. Am letzten Abend in Paris läuft er noch einmal zu absoluter Hochform auf. Wenn diese fast schon wütende Energie und seine impulsive Emotionalität sich exakt die Waage halten, dann passiert etwas ganz Unglaubliches. Seine Songauswahl ist wie eine Welle, die einen im genau richtigen Maß hin und her wirft. Am Ende wirkt er genauso glücklich wie wir, fast schon erleichtert, dass wir diesen Ritt gemeinsam durchgestanden haben. Beim Rausgehen sehe ich wie ein Mann seine Freundin fest an sich gedrückt hält, sie wirkt völlig überwältigt. Ich verstehe sie so gut. Ich brauche danach auch immer jemanden, der mich kurz in den Arm nimmt.

Paris, 04.07.2018

Im Oktober kommt Jack White noch einmal nach Europa. Ich kann es jetzt schon kaum erwarten, ihn und all die Menschen, die mir durch ihn ans Herz gewachsen sind wiederzusehen. Das Mädchen aus Frankreich, das im Herbst zwar wahrscheinlich keine Flip-Flops mehr tragen wird, aber zu hundert Prozent wieder ganz vorne neben wir stehen wird. Das Pärchen aus den Niederlanden, das mit seinem spontan gebastelten „Guitar Pick Please!“-Schild in Amsterdam sensationelle Erfolge erzielen konnte. Meine besten Freundinnen, die meine Obsession für diesen Mann und seine Musik zum Teil nun schon seit mehr als 15 Jahren geduldig mitmachen. Und nicht zu vergessen: den wahrscheinlich reaktionsfreudigsten Gitarrentechniker, den die Welt je gesehen hat. Der im Notfall schon mal einen fliegenden Gitarrenständer einhändig in der Luft auffängt. Wir nennen ihn liebevoll „Guitar Guy“, und ich glaube bis dahin haben wir einen Fanclub für ihn gegründet. Albern? Vielleicht. Erwachsen werden? Später. Glücklich? In vollstem Maße. Danke, Jack.

Paris, 03.07.2018

Fotos: Ray Neutron

www.jackwhiteiii.com