
Diesen Freitag wird die britische Band The 1975 zum ersten Mal als Headliner beim Glastonbury Festival auftreten. Es ist ein entscheidender Moment für die Band, die erstmals 2013 auf dem Festival gespielt hat. Zwölf Jahre lang hat er sich nun angebahnt. Trotz ihres enormen weltweiten Erfolgs in diesen zwölf Jahren ist sich die vierköpfige Band aus Manchester sicherlich bewusst, dass bestimmte Teile der Medien und der Öffentlichkeit bereits ihre Krallen ausgefahren haben und bereit sind, gnadenlos zuzuschlagen. Besonders was Frontmann Matty Healy betrifft.
Es ist nicht fair, aber unvermeidlich. Healy ist den meisten derzeit eher als Taylor Swifts Ex ein Begriff. In Großbritannien hat er als Sohn zweier TV-Stars den Ruf des „Nepo-Babys“ nie ganz ablegen können. Hinzu kommt seine Angewohnheit, wo auch immer er sich zeigt, ungehemmt zu reden und damit Kontroversen und Shitstorms zu provozieren. Und schließlich ist da noch die Tatsache, dass Teenager-Mädchen The 1975 lieben. Eigentlich sollte das keine Rolle spielen – schließlich waren es Teenager-Mädchen, die die Beatles berühmt gemacht haben –, aber in der frauenfeindlichen Musikpresse tut es das tatsächlich.
Healy und seine Bandkollegen George Daniel, Ross Macdonald und Adam Hann werden also sicher unter Druck stehen. Und sie werden eine fantastische Show abliefern. All denjenigen, die sich noch nie intensiv mit ihrer Musik beschäftigt haben, haben wir zwölf Tracks, die zeigen, warum The 1975 zu den prägenden Bands des Jahrhunderts zählen.
Die “Apocalyptic Sense of Being a Teenager” Ära 2013-14
1. Sex („The 1975“, 2013)
Alle Bandmitglieder waren gerade einmal um die 18 Jahre alt, als „Sex“ geschrieben wurde. Der Song ist der musikalische Fingerabdruck von The 1975. Musikalisch fällt er ein bisschen aus dem Rahmen – ein unbestreitbar eingängiger Indie-Gitarrentrack einer Band, die eigentlich gar keine Gitarrenband ist. Auf jedem ihrer fünf Alben decken sie mehrere Genres ab. „Wir kreieren, während wir konsumieren“, sagte Healy immer. Im Streaming-Zeitalter hört niemand mehr nur ein Genre. Selbst ihr selbstbetiteltes Debüt geht weit über den 80er-Jahre-inspirierten Synthie-Pop hinaus, mit dem sie am ehesten in Verbindung gebracht werden.
Thematisch dokumentieren und romantisieren die Trackes des Debütalbums das triste Teenagerleben in der Vorstadt. Musikalisch bilden die Strukturen der Dance-Musik den roten Faden. Auf „Sex“ sorgen das Kreischen der Top-Line-Gitarre und die federnde Rhythmusgitarre darunter sowie der an Manchester erinnernde Cockney-Gesang, den Healy in den frühen Tagen einsetzte, für ein unmittelbares, lebendiges Erlebnis, das einen mitreißt. Einen richtigen Refrain gibt es nicht. Songs von The 1975 haben selten einen. „Sex“ steigert sich immer mehr an Intensität, die Bridge besteht aus einem Trio treibender, aber dennoch melodischer Gitarren. The 1975 können selbst in ihren härtesten Momenten immer noch melodisch klingen.
Und ironischerweise ist die Erfahrung, die „Sex“ dokumentiert, die wahrste und ehrlichste des Teenagerlebens: der Versuch, Sex zu haben, und doch daran zu scheitern. Das Teenagerleben ist so stark geprägt von Sehnsucht, Vorfreude und unerfülltem Verlangen, und The 1975 vermitteln das besser als jede andere Band.
Glastonbury Wahrscheinlichkeit: 100 %. Ein absoluter Klassiker.
2. Chocolate („The 1975“, 2013)
Fragt man jemanden, ob er einen Song von The 1975 kennt, wird er wahrscheinlich „Chocolate“ sagen. Trotz seiner Allgegenwärtigkeit wird der Song musikalisch immer noch unterschätzt. Es ist ein spritziger, poppiger, vom 80er-Jahre-Funk beeinflusster Track, der das Können der Band als Songwriter und Musiker eindrucksvoll unter Beweis stellt.
Strukturell verwendet „Chocolate“ Techniken, die die Band immer wieder verwendet hat und die wie dem 80er-Jahre-Pop von Tears for Fears entnommen klingen: ein einfacher Refrain auf der Leadgitarre, ein etwas rhythmisch komplexer auf der Rhythmusgitarre, kein richtiger Chorus, ein Text, der sich nicht reimt. Klingt als könnte das jeder, aber dem ist eben nicht so. Es steckt eine magische, undefinierbare Zutat darin, die so nur The 1975 rüberbringen.
„Chocolate“ ist ebenfalls ein Song mit Erzählstruktur, eine Geschichte vom typischen, langweiligen Teenagerleben in der Vorstadt. Genau das ist Healys lyrisches Handwerk: spezifische, aber dennoch universell nachvollziehbare Geschichten zu erzählen, die sowohl lustig als auch ergreifend sind. In „Chocolate“ fahren wir im Auto der Eltern herum, rauchen Gras und entkommen der örtlichen Polizei in einer Verfolgungsjagd, die gleichzeitig vorhersehbar, langweilig und ziemlich aufregend ist. Wie pubertär. Wie nachvollziehbar. Wie „Sex“ dokumentiert der große, romantische Sound von „Chocolate“ ein eintöniges, monotones Kleinstadtleben. Es ist die Gegenüberstellung von Realität und Fantasie und gleichzeitig wahnsinnig pubertär.
Glastonbury Wahrscheinlichkeit: 80 %. Die Band liebt es. Die Fans lieben es. Es gibt heutzutage einfach zu viele großartige Songs für eine Setlist.
3. M.O.N.E.Y. („The 1975“, 2013)
Es mag auf den ersten Blick eine seltsame Wahl sein, aber „M.O.N.E.Y.“, der zweite Track des Debütalbums, präsentiert die beiden Talente von Healy als Texter/Sänger und George Daniel als Sounddesigner/Produzent perfekt und mit brillanter Wirkung. Es ist ein schräger Song, und er zeigt das von Anfang an: Die Band hatte schon immer keine Angst davor, zu experimentieren und ein bisschen schräg zu sein. Vor dem Hintergrund von glitchigen Elektropop-Effekten gepaart mit organischen Funk-Sounds, singt/rapt Healy halb im Stil von Mike Skinner von The Streets über einen widerlichen, betrunkenen Typen, den er an einem Abend in Manchester trifft. Es könnte ein Freund sein; es könnte Healy selbst sein.
In „M.O.N.E.Y.“ spielt er sowohl das schillernde Subjekt der Erzählung, das von einer Katastrophe in die nächste stolpert, als auch den frustrierten Polizisten, der sich mit ihm auseinandersetzen muss: “I’m searching you mate. Your jaw’s all over the place…Look, the dog won’t bark if you don’t lark about.” Healy unterbricht seine eigenen Zeilen sogar mit einem hörbaren, müden Seufzer. Seine Texte können so witzig sein, besonders wenn er sich selbst auf die Schippe nimmt.
Glastonbury Wahrscheinlichkeit: 0 %. Seit den Anfangstagen nicht mehr regelmäßig gespielt.
Die “Postmodern, Intellectual Rock Star” Ära (2015–2017)
4. Love Me („I Like It When You Sleep for You Are So Beautiful Yet So Unaware of It“, 2016)
Es ist 2016. Inzwischen hat die Band mit massivem Ruhm, oft negativer Medienaufmerksamkeit, psychischen Problemen und Drogen zu kämpfen. Alles Standard-Themen für ein zweites Album, doch The 1975 gehen anders an die Sache heran. Matty Healys Interesse an kulturellen Phänomenen und den Auswirkungen des Internets auf unsere individuelle Subjektivität und unsere Beziehungen zu anderen tritt zunehmend in den Vordergrund. Wenn er schon berühmt sein muss, will er dem Ganzen wenigstens einen Sinn geben.
„Love Me“, der erste richtige Track des zweiten The 1975 Albums, ist ein Statement: Healy provoziert seinen neu erworbenen Status als sexy Rockstar mit Prince-artigem Pop-Funk. Die Musik trifft auf beißende Sozialsatire, die seitdem nur noch relevanter geworden ist: “Zeilen wie You look famous, let’s be friends/And portray we possess something important” nehmen perfekt die Influencer-Kultur aufs Korn, die heute noch allgegenwärtiger ist als 2015.
Insbesondere Healys postmoderne, selbstbewusste Selbstwahrnehmung ist ein Stilmittel, das er seit jeher verwendet. Er weiß, dass man weiß, dass er weiß, dass er sich selbst parodiert und den Rockstar spielt, der sich selbst liebt. Dabei wissen wir alle, wie abgedroschen und überholt der Rockstar-Kram eigentlich ist. “Love me, if that’s what you wanna do,” zuckt er lässig mit den Achseln. Andererseits will er auch geliebt werden, und genau das sind die Paradoxe, die uns zu Menschen machen.
„Love Me“ ist nur ein Juwel auf einem Album voller Songs, die nach großen Pop-Hits klingen. Im Mittelpunkt steht George Daniel, der sagte, “I Like It When You Sleep…” war der Zeitpunkt, als er wirklich begann, an sein eigenes Talent als Produzent zu glauben.
Glastonbury Wahrscheinlichkeit:: 60 %. Auch hier gibt es einfach zu viele großartige Songs, aber manchmal taucht er auf, besonders auf Festivals.
5. A Change of Heart („I Like It When You Sleep…“, 2016)
The 1975 haben nie ein Hehl aus ihren Einflüssen gemacht. Aber sie stehlen nicht nur, sondern transformieren, und genau in diesem Prozess entsteht Bedeutung. Die Melodie von „A Change of Heart“ klingt wie Yazoos 80er-Jahre-Klassiker „Only You“, nur dass es in diesem Song um ewige Liebe geht. „A Change of Heart“ handelt davon, sich zu entlieben, desillusioniert von der Person zu werden, die man einst vergöttert hat. Es geht auch um Drogen und die Art und Weise, wie intime Momente durch das Internet vermittelt werden – beides beständige Themen für The 1975.
So verführerisch die Melodie von „A Change of Heart“ auch sein mag, es sind Healys Texte, die den Song erst so richtig ausmachen. Er schrieb ihn mehrere Jahre, bevor er öffentlich über seine Heroinsucht sprach, doch er porträtiert Drogen wie immer: mit einer Mischung aus Ekel und Verachtung. Das Einzige, was Healy nie romantisiert, sind Drogen. “I’ve been so worried ‘bout you lately. You look shit and you smell a bit,” sagt seine Partnerin darin zu ihm. Dann gibt es da noch die vielleicht besten Zeilen, die je über die erniedrigenden Auswirkungen sozialer Medien auf die menschliche Kommunikation geschrieben wurde: “You said I’m full of diseases/Your eyes were full of regret/And then you took a picture of your salad and put it on the internet”. Letztendlich verbindet der Song einen wunderschönen Klang mit einer harten Botschaft, und auch das ist ein Markenzeichen von 1975.
Glastonbury Wahrscheinlichkeit: 90 %. Ein Klassiker.
6. Somebody Else („I Like It When You Sleep…“, 2016)
„Somebody Else“ ist einer der besten und beliebtesten Songs der Band. Er baut sich langsam auf, fast sechs Minuten täuschend simpler, grooviger Synthie-Pop, der George Daniels Ohr mit einem großartigen Hook anspricht. „Somebody Else“ ist die Art von Song, die sich anfühlt, als wäre er aus Glas, die Art von Song, der Kopfhörer und eine ruhige Umgebung braucht, um seine Klanglandschaft wirklich zu genießen. Es ist ein Trennungs-Song, wie gemacht, um um zwei Uhr morgens allein im Wohnzimmer zu tanzen und ein bisschen zu weinen.
Auch Healys Text trägt dazu bei. Herzzereißende Zeilen wie “I took all my things that make sound/The rest I could do without”, die einem noch lange nach dem Song im Gedächtnis bleiben. Auch das Internet taucht thematisch wieder auf: “I’m looking through you while you’re looking through your phone.” Wir alle haben schon Paare gesehen, die sich so verhalten. Wahrscheinlich haben wir es selbst schon getan. Einfach ein Meisterwerk modernen Songwritings.
Glastonbury Wahrscheinlichkeit: 100 %. Healy sagte, er habe den Song eine Zeit lang satt gehabt, aber wir nicht. Und er selbst auch nicht wirklich. Er weiß, dass er zu seinen besten Werken zählt.
7. Loving Someone („I Like It When You Sleep…“, 2016)
Das zweite Album der Band ist so gut, dass es wirklich schwierig ist, die besten Songs herauszupicken. Aber „Loving Someone“ darf nicht auf dieser Liste fehlen. Es ist ein weiterer Synthie-Pop-Klassiker, der auf dem typischen Groove von George Daniel aufbaut. Aber der Text ist einfach … nun ja, viel. In vier Minuten wirft Healy alles auf einen Haufen, das ihn interessiert: Konsumkapitalismus, Heteronormativität, toxische Männlichkeit, bevor darüber außerhalb akademischer Kreise wirklich gesprochen wurde, eine ungeschickte Referenz an den Situationisten Guy Debord, die Flüchtlingskrise. Am Ende wirft er dann noch etwas Spoken-Word-Poesie im Stil von T.S. Eliot ein, um das Ganze abzurunden. Und doch lässt sich nicht wirklich bestreiten, dass dies alles wichtige Botschaften sind, die heute genauso relevant sind wie vor einem Jahrzehnt.
Der Song ist ein früher Hinweis auf die politische Wende, die die Band auf ihren nächsten beiden Alben einschlagen wird. Und so erhaben er auch daher kommt, enthält er doch auch einige von Healys besten selbstironischen Witzen:“I’m the Greek economy of cashing intellectual cheques/And I’m trying to progress”.
Glastonbury Wahrscheinlichkeit: 20 %. Es sollte gespielt werden, aber seitdem Healy 2023 erfolglos von der malaysischen Regierung verklagt wurde, weil er Bandkollege Ross Macdonald auf der Bühne geküsst hatte, scheut er offen politische Äußerungen. Glastonbury könnte jedoch der perfekte Zeitpunkt für eine Rückkehr sein.
Die “Online Life Is Destroying Us” Ära (2018-2019)
8. Love It If We Made It („A Brief Inquiry Into Online Relationships“, 2018)
Auf dem dritten und von Kritikern am meisten gefeierten Album konzentriert sich Healy nach seinem Entzug mit Laserschärfe auf die sozialen Missstände im Internetzeitalter. All dies findet seinen Höhepunkt in „Love It If We Made It“. Ein preisgekrönter, explizit politischer Track, von dem Brian Eno sagte, er wünschte, er hätte ihn geschrieben – und gleichzeitig der beste Song der Band: ein von den 80ern inspirierter Synthie-Pop-Track, der uns zum Tanzen animiert, uns aber gleichzeitig mit all den Schrecken der modernen Zeit konfrontiert. Healy rappt halb auf treibende, industrielle Drums über Trumps erste Präsidentschaft, den Zusammenbruch der Wahrheit im Internetzeitalter, die Ohnmacht der Medien und die beiläufige Grausamkeit der Superreichen.
Musikalisch ist der Song ein Meisterwerk der Komposition und Produktion, möglicherweise die klanglich schönste Schimpftirade, die man je gehört hat. Healy erzählt, ohne etwas zu erklären, was dem Song noch mehr Kraft verleiht. Die Zeile „Modernity has failed us“, kommt einer Erklärung zur Lage der Nation am nächsten. 2018 nannte ein Kritiker sie „übertrieben und aufgeblasen“. 2025 ist sie eine ziemlich treffende und tragische Zusammenfassung der globalen Lage. „Love It If We Made It“ hat in den sieben Jahren seit seiner Entstehung nur noch an Relevanz gewonnen, der sehnsüchtige Optimismus im Titel wirkt noch ergreifender.
Glastonbury Wahrscheinlichkeit: 100 %. Healy sagte einmal, er wolle den Song eigentlich nicht spielen, und man wünscht sich, er müsste es nicht tun. Aber wir brauchen auch seine Botschaft, und wir wissen, dass er das weiß.
9. It’s Not Living (If It’s Not With You) („A Brief Inquiry…“, 2018)
„It’s Not Living…“ ist musikalisch das beste Beispiel für den 80er-Jahre-beeinflussten Synthie-Pop, mit dem The 1975 am meisten in Verbindung gebracht werden. Aber so einfach ist es natürlich nicht. Produktionstechnisch braucht man für den Song Kopfhörer, um all die Klangebenen zu hören – die Art und Weise, wie die Synthesizer mit Gitarren, einem Honky-Tonk-Piano, schwebendem, chorartigem Hintergrundgesang und Healys eigener Stimme überlagert werden. Wenn man wissen will, warum The 1975 Imitatoren nie auch nur annähernd so gut klingen wie das Original, dann liegt es an all den winzigen Produktionsdetails, der akribischen Arbeit, die in jeden Track fließt. Auf „It’s Not Living…“ erleben wir das in voller, lebendiger Farbe.
Textlich täuscht uns Healy auf seine typische Art und Wiese. „It’s Not Living…“ klingt wie ein Liebeslied und ist es in gewisser Weise auch, aber ein Liebeslied an Heroin. Allein die Zeilen „Collapse my veins wearing beautiful shoes/It’s not living if it’s not with you“ haben so viel Gewicht, wenn es um Schein versus. düstere Realität und den Kampf ums Cleanwerden geht. Es klingt so schön, ist aber absolut herzzerreißend.
Glastonbury Wahrscheinlichkeit: 100 %. Einer von Healys eigenen Favoriten und ein fester Bestandteil seines Sets.
Die „Notes on a Musical Life“ Ära (2019–2020)
10. People (Notes on a Conditional Form, 2020)
„People“ überraschte viele, als es kurz vor dem bislang größten Headliner-Auftritt der Band, dem Reading Festival 2019, erschien. Musikalisch ist es ihr härtester Song – Rock mit großem R, voller verzerrtem Bass, sägenden Gitarren und Screamo-Texten. Kein anderer Song in ihrer Diskografie klingt so, und doch gibt es ihn: Der Track hat viel mit der Emo- und Hardcore-Szene zu tun, in der die Band in den 2000ern aufwuchs.
„People“ bewies eindrucksvoll, dass The 1975 jedes Genre beherrschen – und das erstaunlich gut. Textlich war der Song damals unheimlich vorausschauend, mit Zeilen wie “Fuck it, I’m just gonna get girls, food, gear/I don’t like going outside so bring me everything here“. Monate später schlug COVID zu und die Welt, wie wir sie kannten, implodierte. Der Refrain – „People like people/They want alive people“ – bekam eine ganz neue Bedeutung. Healy lacht über die Vorstellung, die Zukunft vorhergesagt zu haben, doch nicht zum ersten Mal war die Band mit den Ideen, die sie verfolgte, ihrer Zeit voraus.
Glastonbury Wahrscheinlichkeit: 60 %. Vielleicht eröffnen sie damit, wie beim Reading Festival 2019. Vielleicht schließen sie damit ab. Live war es schon immer elektrisierend.
11. The Birthday Party („Notes on a Conditional Form“, 2019)
“Notes on a Conditional Form”, das ausufernde, 22 Songs starke vierte The 1975 Album, verwirrte und spaltete die Zuhörer. Es ist ein bisschen seltsam und ein bisschen zu viel. Wenn man es als eine Platte betrachtet, die von zwei ihr Leben lang von Musik Besessenen aufgenommen wurde, die den Klängen Tribut zollen, die sie lieben, ergibt es mehr Sinn.
„The Birthday Party“ bietet einen interessanten Kontrast zu den Erzählungen über jugendlichen Hedonismus des Debütalbums. Healy, der nach seiner Entzugskur auf die 30 zugeht und sich seines Älterwerdens zunehmend bewusst wird, erzählt, wie er nüchtern auf einer Geburtstagsparty ist, während alle anderen Gäste im Moment und im Leben ganz woanders sind. Es ist eine brillante Darstellung dessen, wie ermüdend und anstrengend diese gesellschaftlichen Anlässe sein können, lustig und gleichzeitig textlich niederschmetternd. Die Zeile „All your friends in one place“ enthält eine subtile Anspielung auf LCD Soundsystem, doch statt eines nostalgischen, kollektiven Erlebnisses wird Healy dafür gerügt, dass er nicht mehr Teil der Szene ist: “Don’t be don’t be a fridge, you better wise up kid/It’s all Adderall now…” Er streitet mit einer Freundin und einem weiteren Kumpel und beendet das Lied mit einer ruhigen, nachdenklichen Note, die einen eindringlich berührt: „I depend on my friends to stay clean/As sad as it seems.“
Musikalisch zeigt „The Birthday Party“ die Band in ihrer zurückhaltendsten Form, mit schleifenden Akustik- und Slidegitarren, einem Banjo und dezenten Drums statt einem voluminösen 80er-Jahre-Sound. Es klingt ein wenig amerikanisch, inspiriert von Bon Iver und Pinegrove. Es ist einer der wenigen Songs, die die Band gemeinsam im Studio geschrieben hat, anstatt Healy und Daniel über einen Laptop gebeugt und ist damit ein interessanter Vorbote der Wendung, die ihr fünftes Album nehmen sollte.
Glastonbury Wahrscheinlichkeit: 10 %. Wahrscheinlich nichts für dieses Publikum, aber bei The 1975 weiß man nie wirklich, was einen erwartet.
Die “At their very best” Ära (2022-)
12. Part of the Band („Being Funny in a Foreign Language“, 2022)
„Part of the Band“ ist der schrägste Song auf dem kompaktesten und mainstreamtauglichsten fünften Album der Band. Produziert von Jack Antonoff, enthält das Album viele der 80er-Jahre-inspirierten Popsongs, die ihr Markenzeichen sind und sich als Publikumslieblinge etablieren werden. Doch mit der Lead-Single „Part of the Band“ gingen sie in eine ganz andere Richtung. Ihre erste Veröffentlichung seit über zwei Jahren war eine mutige Entscheidung, die viele Leute hassten. Aber wie Healy wahrscheinlich sagen würde: Sie verpassen etwas.
Musikalisch wird der Song von einem Orchester aus disharmonischen Celli und Violinen angeführt, was man von The 1975 nicht unbedingt erwartet. Die Band wollte mit diesem Album ihr Können und ihre langjährige Erfahrung als Live-Musiker unter Beweis stellen, und das zeigt sich auf diesem Track deutlich. Die 30-sekündige Instrumental-Bridge bringt alles auf den Punkt und ist einfach wunderschön. „Part of the Band“ ist wahrscheinlich der seltsamste Song, den Pop-Mastermind Jack Antonoff je angefasst hat, und er funktioniert einfach.
Die Melodie wird allein von Healys Gesang getragen. „Part of the Band“ ist eine Art Autobiografie, der Song zeigt ihn von seiner erstaunlichsten, nachdenklichsten, witzigsten und poetischsten Seite. All dies erreicht seinen Höhepunkt in den fesselnden Schlusszeilen . “Am I ironically woke? The butt of my joke? Or am I just some post-coke, average, skinny bloke? Calling his ego imagination,” sinniert Healy. Er weiß, dass wir wissen, was viele Leute von ihm denken, genauso wie er die reißerische Besessenheit vieler damit kennt, ob er wieder Drogen nimmt oder nicht. “I’ve not picked up that in a thousand four hundred days/And nine hours and sixteen minutes, babe,” ist seine Verabschiedung. Und dann ist da noch der emotionale Tiefschlag: “It’s kind of my daily iteration”.
Glastonbury Wahrscheinlichkeit: 30 %. Es ist wahrscheinlich nichts für die Pyramid Stage, aber wie immer bei The 1975 gilt: Erwarten Sie das Unerwartete.
Der Artikel ist ursprünglich auf englisch erschienen und wurde ins Deutsche übersetzt. Das Original lest ihr hier.