Merke: wenn man sich über die Vielzahl der derzeit herrschenden Missstände in der Unterhaltungsindustrie beschweren möchte, dann muss man das so präzise wie möglich tun. Wenn man sich zum Beispiel darüber beklagt, dass bei den diesjährigen Oscar-Nominierungen wieder einmal fünf der nominierten Regisseure männlich sind, wird sich immer ein Idiot finden, der meint mit dem Argument kontern zu müssen: „Dann gab es halt keine Regisseurinnen, die gut genug für eine Nominierung gewesen wären.“ Also muss man offensichtlich konkreter werden. Und sich stattdessen gezielt darüber aufregen, dass Greta Gerwig für ihre Leinwandadaption des Jugendbuch-Klassikers „Little Women“ nicht als beste Regisseurin nominiert wurde. Eigentlich dürfte darauf jedem, der den Film gesehen hat, kein beschwichtig-relativierendes Gegenargument einfallen. Denn schließlich geht es nicht um das Erfüllen von Quote. Es geht darum, dass Frauen leider immer noch, immer wieder für unbestreitbar gleich hochwertige Arbeit weniger Anerkennung erfahren als ihre männlichen Kollegen. (Man könnte sich an dieser Stelle übrigens genauso gut darüber aufregen, dass Lulu Wang ebenso wenig für ihren wunderbaren Film „The Farewell“ als beste Regisseurin nominiert wurde. Aber das nur am Rande.)
Gut, man kann nicht sagen, dass „Little Women“ bei den Oscar-Nominierungen übergangen wurde. Insgesamt sechs Nominierungen gab es, unter anderem als bester Film sowie für Saoirse Ronan als beste Haupt- und Florence Pugh als beste Nebendarstellerin. Aber dass Greta Gerwig dieses Jahr ausgerechnet in der Regie-Kategorie das Nachsehen hat, ist trotzdem ein Ärgernis. Der Fairness und Korrektheit halber: 2018 wurde sie für ihr Debüt „Lady Bird“ als beste Regisseurin nominiert. Sie dieses Jahr wieder zu nominieren hätte auf wünschenswerte Weise untermauert, dass Gerwig es mit gerade mal zwei Filmen geschafft hat, sich als eine der talentiertesten, künstlerisch aufmerksamsten Regisseur*innen unserer Zeit zu etablieren. Denn beide Filme haben den gleichen Effekt: sie sind ungemein unterhaltsam auf den ersten Blick und werden, wenn sie sich erst einmal gesetzt haben, auf lange Sicht immer besser.
Schon bei der Ankündigung ließ „Little Women“ keine Wünsche offen. Die Vorlage, ein Jugendroman von Louisa May Alcott aus dem Jahr 1868 und Greta Gerwig wirken wie ein match made in heaven. Die Besetzung: Saoirse Ronan, Emma Watson, Florence Pugh und Eliza Scanlen als die March Schwestern, Laura Dern als Mutter March, Meryl Streep als Tante March und Timothée Chalamet als Laurie – das allein kann einem Kinofan schon die Tränen in die Augen treiben. Hinzu kommt eine leicht diebische Freude, dass Greta Gerwig sich für ihren nächsten Film nach „Lady Bird“ – auf den die Welt mit großer Aufmerksamkeit blickt – einen Stoff ausgesucht hat, in dem alle tragenden Rollen Frauen sind.
Die Geschichte der March Schwestern gehören zu den erfolgreichsten Jugendbüchern der englischen Literatur. Und sie werden auch gerne als Werke betrachtet, die sich früh für die Unabhängigkeit von Frauen einsetzten – natürlich betrachtet durch die Brille jener Zeit. So spricht im ersten der Romane Mutter March mit ihrer Tochter Meg über die Ehe und lässt zwar keinen Zweifel daran, dass sie sich für ihre Töchter einen Ehemann wünscht. Jedoch soll es zumindest eine Liebesheirat sein. Entsprechend erfährt Meg (im Film gespielt von Emma Watson) von ihren Eltern auch Unterstützung, als sie sich in den wenig wohlhabenden Lehrer John Brooke verliebt, was für die Zeit und die Tatsache, dass die Familie March zu dem Zeitpunkt selbst nicht mehr so wohlhabend ist wie sie früher einmal war, doch recht fortschrittlich ist. Und natürlich propagiert alleine das Grundmotiv von „Little Women“ eine gewisse weibliche Unabhängigkeit – sie zeigt eine Familie, in der die Frauen auf sich allein gestellt sind und eine familiäre Atmosphäre, in der neben den täglichen Aufgaben und der Härte des Alltags auch Wert auf die persönliche Entfaltung gelegt wird.
Greta Gerwig pickt sich diese Aspekte in ihrer Adaption heraus und misst ihnen besondere Bedeutung bei. Während Jo (Saoirse Ronan) als junge Frau in New York lebt und versucht, ihren Weg als Schriftstellerin zu gehen, weilt ihre Schwester Amy (Florence Pugh) mit ihrer Tante March in Europa und lebt ihre Leidenschaft für die Malerei aus. Dort trifft sie auf Laurie, den ehemaligen Nachbarn und Jugendfreund der March Schwestern, der sich auf Reisen die Wunden leckt, die seine große Liebe Jo ihm zugefügt hat, als sie ihn abgewiesen hat. Die Nachricht, dass Beth (Eliza Scanlen), die jüngste der Schwestern, erneut schwer erkrankt ist, führt Jo zurück nach Hause und weckt Erinnerungen an die oft von Entbehrungen geprägte, aber in ihrer Art auch unbeschwerte Jugend und an die Freundschaft mit dem wohlhabenden Nachbars-Enkel Laurie. Neben der Sorge um die Schwester ringt Jo damit ob es richtig war Laurie abzuweisen, obwohl sie sich sicher ist, dass sie ihn nie mehr lieben wird als einen Bruder. Aber ist es nicht vielleicht genauso viel wert geliebt zu werden wie selbst zu lieben?
Greta Gerwigs „Little Women“ sind so energetisch, so voller Leben wie keine der Adaptierungen des Klassikers zuvor. Manche Szenen lässt sie exakt so lebendig werden, wie man sie beim Lesen der Vorlage vor Augen hat (zum Beispiel wenn die March Schwestern Laurie in ihren Club aufnehmen und dieser bereits im Schrank auf seinen Auftritt wartet). Gleichzeitig liegt unter allem diese Melancholie, und die traurigsten Szenen sind dabei noch nicht einmal die, wenn Beth erkrankt oder wenn Laurie Jo vergeblich seine Liebe gesteht (wobei, zugegebenermaßen, die Vorstellung Timothée Chalamet abzuweisen doch etwas schmerzhaft ist). Wenn Jo ihrer Mutter gesteht, dass sie einerseits unabhängig leben möchte, dass sie sich nicht als Ehefrau und Mutter sieht, gleichzeitig aber darunter leidet, dass sie so schrecklich einsam ist, das ist so ein Moment, der einem regelrecht das Herz zerreißt. Auf diese Weise erreicht Gerwig den Idealzustand: sie wird einem Klassiker gerecht und schafft es gleichzeitig, ihm ihre eigene Handschrift hinzuzufügen.
Am Ende lässt sie Raum für Interpretation. Gibt es wirklich ein Liebes-Happy-End für Jo? Ist es ihr möglich, sowohl romantische als auch berufliche Erfüllung zu finden? Kann man sein Glück in der Unabhängigkeit finden? Wenn man den Stolz und die Unsicherheit in Saoirse Ronans Gesicht miteinander kämpfen sieht, wird die Geschichte nahezu zeitlos und so berührend, dass man nicht nur wundervoll unterhalten, sondern auch etwas bedrückt nach Hause geht. So etwas vermag nur ganz großes Kino – und das stammt in diesem Fall von einer ganz großen Regisseurin.
Fotos © Sony Pictures