Am Wochenende veröffentlichte Madonna über ihre sozialen Medien einen Vorgeschmack auf ein Covershooting für das amerikanische V Magazine. Darauf inszeniert sich die 63-jährige, nicht zum ersten Mal, im Stile Marilyn Monroes – mit platinblonden Locken, Perlenkette und Pelzmantel, auf einem Bett liegend in einem Schlafzimmer, das, bei näherem Hinsehen, an das Zimmer erinnert , in dem die Hollywood Ikone im Alter von 35 Jahren an einer Medikamentenüberdosis starb. Dass sich auf dem Nachttisch in jenem nachempfundenen Zimmer sogar die in den USA typischen Röhrchen für verschreibungspflichtige Medikamente befinden, sorgte für Protest in den sozialen Medien. Viele empfanden die Art, wie Madonna den tragischen Tod einer verzweifelten Frau als Inspiration für ein Fotoshooting nutzt, als geschmacklos. Steven Klein, der Fotograf, der Madonna inszenierte, verteidigt das Shooting als eine Hommage an eines der vielleicht berühmtesten Fotoshootings der Welt, „The Last Sitting“ von Bert Stern. Stern verbrachte 1962 drei Tage allein mit Marilyn Monroe in einem Hotelzimmer, er fotografierte sie leicht verhüllt wie auch ganz nackt, Tag und Nacht, es entstanden fast 2600 Aufnahmen. Nur sechs Wochen später starb Marilyn Monroe. In einem Statement erklärt Steven Klein, mit dem Madonna Shooting der besonderen Beziehung zwischen Fotograf und Modell Tribut zollen zu wollen, die er als „a private affair between two artists which rarely happens anymore“ bezeichnet.
„The Last Sitting“ hat auch einen Auftritt in „Im Spiegelsaal“, dem neuen (inzwischen fünften) Sachcomic-Band der schwedischen Politologin, Autorin und Zeichnerin Liv Strömquist. Wenn man den gelesen hat, möchte man zu gerne wissen, was Strömquist über Madonnas neuesten Publicity-Stunt denkt. „The Last Sitting“ wird oft gefeiert als die ultimative Symbiose zwischen Fotograf und Modell, und ohne Frage ist Marilyn Monroe auf den Fotos faszinierend durchlässig und nahezu unerträglich schön. Die Verletzlichkeit, die sie so kurz vor ihrem Tod öffentlich zur Schau stellte, wird gerne auf das intime, sensible Verhältnis zwischen ihr und Stern zurück geführt. Liv Strömquist, die Frau, die so gerne mit dem Fingernagel ins schnöde Fleisch eines jeden romantisierten Mythos piekst, sieht das ein wenig anders. Sie zitiert Bert Stern aus dem Dokumentarfilm „Bert Stern: Original Madman“, in dem er zugab, von Marilyn Monroe besessen gewesen zu sein. Sexuelle Obsession und das Fotografieren gingen bei ihm ganz natürlich Hand in Hand, er fotografierte Menschen aus dem Bedürfnis heraus sie zu besitzen, wie er es selbst formulierte. Wenn man sich seine Worte auf der Zunge zergehen lässt, dann bekommt die Vorstellung, dass er Marilyn Monroe drei Tage und Nächte nahezu ohne Pause nackt vor seiner Kamera posieren ließ, einen leicht unangenehmen Beigeschmack. Spätestens wenn man betrachtet, dass Marilyn Monroe einen Teil der Fotos sehr bewusst und eigenmächtig mithilfe von rotem Nagellack als nicht für die Öffentlichkeit bestimmt markierte und diese 1993 schließlich doch noch im Rahmen einer weltweiten Ausstellung und eines Bildbandes das Licht der Welt erblickten, kippt dieser endgültig ins Bittere. Weder vor noch nach ihrem Tod hat die Welt je aufgehört, sich über den Willen Marilyn Monroes hinwegzusetzen.
In „Im Spiegelsaal“ geht es, der Name verrät es bereits, um Schönheit und deren Wahrnehmung. Es ist ein Thema, von dem es einem nur logisch erscheint, dass Liv Strömquist sich ihm annimmt. In ihren Sachcomics hält sie der Gesellschaft schließlich gnadenlos den Spiegel vor, vor allem wenn es um patriarchale Strukturen und die Behandlung und öffentliche Rezeption von Frauen geht. Ihr letzter Band „Ich fühl’s nicht“ handelte von der modernen Unmöglichkeit, sich in Beziehungen einander zu verpflichten, beziehungsweise noch elementarer, überhaupt etwas für einander zu empfinden. Nun also der Blick auf die äußere „Schale“, wie wir sie pflegen, wie wir ihr persönlich gegenüber stehen und wie wir sie der Öffentlichkeit präsentieren. Um die tiefe Verwurzelung der daraus entstehenden Probleme zu verdeutlichen, greift sie erneut zu dem gern von ihr benutzten Mittel, aktuelle Themen historischen Begebenheiten gegenüber zu stellen. So schlägt sie zum Beispiel die Brücke von „The Last Sitting“ zu dem Bildband „Selfish“, den Kim Kardashian 2015 herausbrachte und der nur Fotos enthält, die sie von sich selbst gemacht hat. Strömquist untersucht auf diese Weise, ob das Fotografieren seiner selbst ein Weg der Selbstermächtigung ist, im Vergleich zur Abhängigkeit vom Blick des Fotografierenden – oder ist das nur eine ziemlich vertrackte Illusion?
Das Phänomen des Selfie spielt in diesem Band natürlich eine wichtige, wiederkehrende Rolle und mit ihm der permanente Optimierungszwang, der mit dieser Form der Selbstpräsentation einher geht. Strömquist stellt die Frage in den Raum, ob es möglich ist, sich in sozialen Medien authentisch zu präsentieren, ob wir das überhaupt wollen und wenn nein, warum nicht. Die Angst vor dem Alter, der optische Konkurrenzdruck unter Frauen, der Ursprung der Magersucht (und welche Rolle Kaiserin Elisabeth von Österreich aka Sisi hierbei spielte), die Frage, welche Rolle Schönheit damals im Vergleich zu heute bei der Partnersuche spielte – all das wird vor den Spiegel gezerrt und akribisch studiert. Wie immer bei Liv Strömquist passiert das auf eine höchst unterhaltsame, künstlerisch sehr eigene und final immer erhellende Weise.
Wer sich einmal auf ihren gnadenlosen Blick einlässt, der wird feststellen, dass ihre Perspektive weit weniger desillusionierend ist, als es vielleicht klingen mag. Wer seichte Unterhaltung, romantische Verklärung und stereotype Rollenbilder sucht, ist bei ihr natürlich Fehl am Platz. Aber ihrem sezierenden Blick wohnt stets eine Sehnsucht nach positiver Veränderung inne, und die brauchen wir heute immer noch, oder vielleicht sogar mehr denn je. Man wird auf jeden Fall das Gefühl nicht los, dass Marilyn Monroe und Liv Strömquist sich so einiges zu sagen gehabt hätten.
„Im Spiegelsaal“ von Liv Strömquist ist in deutscher Übersetzung im Avant Verlag erschienen.