Wie gerne würde ich die Geschichte meiner allerersten Vinylplatte so erzählen: Ich, als 16jähriges Mädchen aus kleinbürgerlichem Elternhaus in lila Doc Martens und löchrigen Jeans, betrete furchtbar aufgeregt, aber mit einstudiertem Gesichtsausdruck den einzigen Plattenladen weit und breit. Kurze Anmerkung: Der Landkreis Viersen gehört eher in die Kategorie „kulturelle Tristesse“. Vermeintlich erwähnenswerte Highlights: Schützenfest, Pfarrfest, Spargelfest, Burgfest und natürlich der Karnevalszug. Mit 16 beschloss ich also aufzubegehren und gegen die zahlreichen Roxette-Coverbands zu rebellieren. Joyride? Ohne mich! Ich betrete also den schummrigen Laden, der Typ am Tresen guckt kurz auf, nickt und zeigt auf das Schild „Hier – Taschen“. Ich friemel meinen Eastpack ins Fach und sehe mich vorsichtig um. Der winzige Raum ist bis oben vollgeramscht mit Kisten und Kartons, es riecht komisch. Coole Jungs in Lederjacken blättern wie hypnotisiert von einem Plattencover zum nächsten und da läuft so’n Song – Eine ganz zarte, zerbrechliche Melodie, Glockenspiel, eine weiche, sanfte Männerstimme: „…Watch out! The world’s behind you…“ Betont lässig stottert mein 16jähriges Alter Ego: „Ähh…voll gut…was ‘n das?“ Der Typ hinterm Tresen zieht wahlweise belustig oder mitleidig einen Mundwinkel hoch, drückt seine Zigarette aus und läuft wortlos an mir vorbei. Zielstrebig steuert er den Tisch mit dem Pappschild „Classics“ an und drückt mir wenig später ein weißes Cover mit einer riesigen Banane in die Hand – das namenlose The Velvet Underground & Nico-Meisterwerk. Dieser Moment sollte mein Leben verändern.
Dieser Moment fand so leider nie statt. Ich war 27 Jahre alt, längst aus meinen Doc Martens rausgewachsen, in dem Plattenladen wurde nicht geraucht und der gelangweilte Typ hinterm Tresen war eine sehr nette, bebrillte Frau, die mir aus pädagogischen Zwecken direkt noch eine alte Syd Barrett-Platte in die Hand drückte. Freudig erregt lief ich nach Hause und hörte zwei Wochen am Stück das Bananen-Album. Die Platte traf mich wie ein Vorschlaghammer und erschütterte mich in meinen Grundfesten. Ich schämte mich für meine Unwissenheit. Wie konnte das nur passieren? Fortan verschlang ich alles, was ich über The Velvet Underground, Lou Reed und John Cale in die Finger bekam. Nicht nur Alben bestimmter Künstler, sondern ganze Genre machten plötzlich viel mehr Sinn. Es war, als hätte ich das fehlende Puzzleteil meiner Musiksammlung gefunden.
Ich inhalierte Texte über die legendenumwobene Gründung von The Velvet Underground. Ich stellte mir vor, wie in Warhols Factory psychedelische Lichtkonstruktionen an den Wänden waberten, Menschen drum herum räkelten, allesamt kräftig auf Heroin, LSD oder was sonst gerade rumlag. Im Zentrum des Geschehens: eine Band mit dem Rücken zum Publikum und Lou Reed intoniert morbide Zeilen über Tod, Drogen, Sex und den allumfassenden Wahnsinn.
Ich las viel über die Hahnenkämpfe der genialen Alphatiere Cale und Reed. Mir fielen Interviews in die Hände, welche in mir tiefstes Mitleid für den armen Musikjournalisten hervorriefen. Reed als gnadenloser Egomane, der wie eine riesige Dampfwalze über mal mehr mal weniger sensible Seelen hinweg rollt und seine Verhaltensweise mit einem „Go Fuck Yourself!“ abrundet. Hinter dem sanften, romantischen Poeten und Songschreiber lauerte (einmal mehr) der auf Krawall gebürstete Narzisst.
Ebenfalls unvergessen – seine verdammt humorvolle Seite: Lou Reed liest mit sonorer Stimme die Taglines diverser Pornos. Das ist teilweise so abartig, dass es sogar IHM, Lou Reed (!!), die Sprache verschlägt. Damit hätte auch niemand gerechnet.
In Lou Reed bündelt sich (neben einer Menge Wiederspruch) so viel Legendäres, dass es eigentlich auf mehrere Personen verteilt werden müsste. Als am Sonntag die Nachricht seines Todes die sozialen Medien erreichte, wurde ich das Gefühl nicht los, Lou Reed hätte seit Jahrzehnten seinen eigenen Nachruf vertont. „Perfect Day“, „Take a Walk on the Wild Side“ und „Sunday Morning“ ploppten im Minutentakt auf und jagten mir erneut Schauer über den Rücken. Ich möchte mich an dieser Stelle den zahlreichen Stimmen anschließen: Rest in Peace, Lou Reed – „You make me forget myself“.
Von Julia Floß