Lindsey Stirling im Interview: „Seid einfach so, wie ihr sein wollt!“

Meine Begegnung mit Lindsey Stirling an diesem Tag verläuft getreu dem Motto: we hit it off right away. Lindsey freut sich über meine grünen Haare, die ihr an diesem regnerischen Tag, wie sie sagt, spontan gute Laune machen. Ich mich über ihre Fellmütze, die mindestens genauso lustig ist. Und sofort sind wir mitten im Gespräch über Lindseys neues Album „Artemis“, über ihren ersten eigenen Manga, darüber, wie es sich anfühlt sein eigenes Genre zu sein und was sie und ihre Geige versuchen, den Menschen da draußen zu vermitteln. 

Zum Einstieg muss ich mal wieder etwas über meine Tochter erzählen. Sie liest wahnsinnig gerne Fantasy-Bücher. Am Wochenende hat sie ein neues Buch angefangen und hat dabei, über Kopfhörer, dein neues Album „Artemis“ gehört. Irgendwann meinte sie: „Mama, das ist toll! Die Musik ist der perfekte Soundtrack zu meinem Buch. Wenn ich sie höre, werden die Bilder sofort lebendig.“

Oh mein Gott, das ist großartig! Ich liebe es! Vor allem da ich das Album geschrieben habe, während ich parallel an einem Comicbuch gearbeitet habe. Ich hatte dabei die Idee, dass das Album der Soundtrack zu der Geschichte wird und ihre Ästhetik widerspiegelt. Es freut mich also sehr zu hören, dass meine Musik offensichtlich genau so funktioniert!

Ich dachte, das muss ich dir erzählen. Und dann habe ich das Video zu „Artemis“ gesehen, das ja auch in genau so einer Fantasy-Welt spielt.

Sehr Fantasy inspiriert! Mit den Kriegerfrauen… ich liebe dieses Video, ich finde es ist das Beste, das ich seit langem gemacht habe. Die Choreografie hat großen Spaß gemacht. Wir haben in den Redwood Wäldern in Nordkalifornien gedreht. Diese riesigen Bäume gibt es nirgendwo sonst auf der Welt. Ich wollte dort schon immer ein Video drehen. Die Kostüme haben uns allen so viel Selbstbewusstsein gegeben. Ich meine, sieh uns an, wie stolz und selbstbewusst wir tanzen!

Jetzt, zu deinem neuen Album, kam mir auch der Gedanke, dass du im Prinzip dein eigenes Genre geworden bist.

Irgendwie… ja. Jetzt wo du es so sagst. Wenn die Leute mich fragen wie ich meine Musik beschreiben würde, weiß ich gar nicht was ich sagen soll. Ich habe mich schon immer geweigert, wenn es um mich und mein Leben geht, in Kategorien zu denken, geschweige denn in einer Schublade zu bleiben. Ich hatte zum Beispiel schon früh einen sehr eigenen Kleidungsstil. Meine Mutter hat früher immer gesagt: „Lindsey marschiert zum Rhythmus ihrer eigenen Trommel.“ Ich habe Dinge schon immer so gemacht wie ich sie machen wollte. Wer sagt, dass immer alles in die richtige Schublade passen muss? Ich finde es wunderbar, wenn es nicht so ist. Das macht doch viel mehr Spaß! Es war mein Ziel und ich glaube, ich habe es erreicht.

Das muss doch unglaublich befriedigend sein. Vor allem wenn man bedenkt dass viele Leute am Anfang gesagt haben: Was zum Teufel tut sie da?

Es ist sehr befriedigend, absolut. Seine eigene Route im Leben zu nehmen ist immer beschwerlicher als dem vorgegebenen Pfad zu folgen. Aber wenn man es einmal getan hat und angekommen ist, ist es einfach nur großartig. Ich habe quasi meine eigene Nische im Internet. Es wird nie jeden interessieren. Ich weiß das. Aber hey, wenn du nach einer tanzenden Elektro-Violonistin suchst – hier bin ich! (lacht) Ich bin die beste, die du da draußen finden wirst, denn ich bin die einzige.

Das stimmt! Und mal ganz ehrlich, so klein ist die Nische nicht. Dein Video zu „Artemis“ ist erst vor ein Tagen veröffentlicht worden und hat schon weit über 2 Millionen Views!

Ja! Ich bin so glücklich. Die Leute kommen wieder, und es kommen immer noch neue Leute dazu. Erst kürzlich habe ich die 12 Millionen Abonnenten auf YouTube geknackt. Ich dachte, ich habe so ein unglaubliches Glück. Die Leute schenken mir ihre Zeit, und sie geben ihr hartverdientes Geld für Tickets und für meine Musik aus. Ich kann nur versichern, es ist an mich nicht verschwendet. Ich weiß es sehr zu schätzen. Ich komme aus einer Familie, in der jeder Dollar gezählt wurde. Zeit und Geld haben einen Wert. Es bedeutet mir sehr viel, wenn sie mir ab und zu ihre Zeit und ihre Energie schenken.

Ich bin überzeugt, dass die Leute so etwas spüren. Du schaffst mit deiner Kunst ein Zuhause für sie und nimmst sie an so wie sie sind.

Ja! Komm wie du bist! Ich liebe das an meinen Fans. Wenn ich auf der Bühne bin und ins Publikum blicke, sehe ich nur die ersten paar Reihen, aber in denen sehe ich jeden! Ich sehe Kinder, ich sehe ältere Paare, ich sehe einen nerdigen Typen, der mit seinem Zelda-T-Shirt offensichtlich ein leidenschaftlicher Gamer ist. Ich sehe einen Typen im schwarzen Trenchcoat, der mit dem Kopf wippt als wäre er auf einem Heavy Metal Konzert. Seid einfach so, wie ihr sein wollt! Hier sind wir eine Familie! Ich möchte dass die Leute, wenn sie nach Hause gehen, etwas mitnehmen. Dass sie nicht nur unterhalten werden, sondern sich auch selbst ein kleines bisschen mehr lieben, dass sie sich verstanden fühlen. Ich schätze es auch sehr, dass meine Online Community sehr unterstützend ist. Und das nicht nur mir gegenüber. Manchmal bringt jemand in den Kommentaren zum Ausdruck dass er gerade mit etwas kämpft oder dass es ihm nicht so gut geht. Und bevor ich die Chance habe darauf zu reagieren – es ist einfach zu viel, ich versuche es, aber ich kann nicht immer auf alles reagieren – haben meine Fans sich seiner schon angenommen. Es ist eine Community, die ich gestartet habe, aber sie gestalten sie und halten sie am Leben. Es wird ja immer viel über die negativen Dinge geredet, die im Internet passieren. Aber ich finde es gibt auch sehr viel positive Energie. Sicher, die lauten Kommentare sind die negativen, die gemeinen. Aber es gibt auch viele die nicht so gehört werden, die sehr positiv sind. Im Prinzip haben wir doch alle die gleichen Ängste, Hoffnungen und Träume. Es verbindet uns viel mehr, als wir eigentlich denken! Wenn du ab und zu daran erinnert wirst dass jemand, der vielleicht noch nicht einmal deine Sprache spricht und der gerade an einem ganz anderen Punkt seines Lebens steht als du, trotzdem die gleichen Hoffnungen, Ängste und Herausforderungen mit sich trägt, dann entsteht ein Gefühl von Zusammenhalt.

 

Erzähl mir, was ist in den letzten Jahren in deinem eigenen Leben passiert? Wir haben uns ja vor drei Jahren schon einmal getroffen, als du gerade dein Album „Brave Enough“ herausgebracht hast.

 „Brave Enough“ war ein sehr besonderes Kapitel in meinem Leben, und es war ein hartes Kapitel, vielleicht sogar das härteste bis jetzt. Ich habe das Album über den Tod meines Vaters und meines besten Freundes geschrieben. Ich wusste bis dahin nicht, dass die menschliche Seele so einen Schmerz fühlen kann. So eine Begegnung mit dem Tod verändert einen, und ich hatte das Gefühl, dass ein Teil von mir mit ihnen gestorben ist. Ein Teil von dem Mädchen mit der rosaroten Brille das ich früher war, war plötzlich verschwunden. Das zu realisieren und zu akzeptieren war hart. Ich musste lernen, mich wieder vorwärts zu bewegen, zu lernen wer ich jetzt bin und mich daran zu gewöhnen. Nach zwei Jahren Leben mit dieser Erfahrung habe ich gespürt, wie ich wieder zu mir zurückkomme. Und mir wurde klar: ich war gar nicht weg, ich war depressiv und voll und ganz mit meiner Trauer beschäftigt. Zu spüren, dass man durch solche Dinge hindurchgehen und sie überwinden kann, hat mich eine neue Art von Mitgefühl gelehrt. Deshalb hat mich das Symbol des Mondes so sehr berührt. Artemis ist die Göttin des Mondes, und der Mond bewegt sich in Phasen. Manchmal erleuchtet er den ganzen Himmel. Und dann wird er wieder von Schatten verdeckt und man blickt zum Himmel und denkt, er existiert nicht mehr. Ich glaube, so geht es uns selber auch. Manchmal haben wir das Gefühl, wir sind nicht mehr da. Aber wenn wir immer danach streben, das Beste in uns zu entdecken, dann können wir diese Schatten überwinden und wieder in vollem Glanz erstrahlen. Ich habe dieses Album aus einem Zustand großer Freude heraus geschrieben. Viele sagen ja Schmerz wäre der beste Ausgangspunkt für Kreativität, aber ich finde das kann man so nicht sagen. Ich glaube, das hier ist das beste Album, das ich jemals geschrieben habe! Und ich glaube dass das so ist, weil ich in der Lage war, ein ehrliches Gefühl von Hoffnung zu teilen. Es ist das Album, das am Natürlichsten zu mir gekommen ist.

Es ist auch, finde ich, dein schnellstes, lebendigstes Album geworden.

Ja! Es ist sehr energetisch. Die meisten Songs sind schnelle Uptempo-Nummern. „Between Twilight“ ist einer der wenigen langsamen Songs – auch wenn ich den mit am liebsten mag. Ich schließe so gerne die Augen zu ihm und träume von Elfen und Feen (lacht).

Wie bist du denn überhaupt auf die Idee gekommen, einen Comic zu schreiben?

Die Idee hatte ich schon lange. Ich habe viele Fans, die Comics und vor allem Mangas lieben. Ich liebe es Geschichten zu erzählen, dafür fühlte es sich genau richtig an. Ich habe schon vor einer Weile damit angefangen einen Comic zu schreiben, aber es hat irgendwie nicht funktioniert. Die Geschichte war nicht die richtige, und ich hatte das Gefühl, ich kann es nicht erzwingen, solang die Geschichte nicht funktioniert. Dann hatte ich die Idee, ein Album über die Mondgöttin Artemis zu machen und plötzlich war mir klar, dass es genau das ist, was ich erzählen will. Ich wollte die Charaktere ausarbeiten und erzählen, wie genau Artemis die Mondgöttin wurde. Plötzlich hatte ich so viele Ideen. Wenn die Inspiration kommt, dann kommt sie einfach. Ich habe inzwischen da oben einige Engel, wie meinen Vater und meinen besten Freund, die ich um Hilfe bitten kann. Und ich weiß, dass sie mir dabei geholfen haben, dieses Album zu machen. Es ist viel zu schnell und leicht zu mir gekommen, als dass es nur mein Werk sein könnte. Und ich liebe einfach Mangas! Es war mir sofort klar, dass ich diesen Stil benutzen wollte. Meinen Illustrator habe ich über Instagram gefunden. Ich habe so lange im Hashtag Anime gesucht, bis ich jemanden gefunden habe, dessen Arbeit mir gefällt und der geantwortet hat. Er kommt aus Japan, was großartig ist. Es wird eine sechsteilige Reihe werden. Im Moment bin ich noch dabei, die letzten losen Fäden der Handlung zusammenzuführen, aber es war mir wichtig, dass die erste Ausgabe zeitnah zum Album raus kommt. Ich hoffe, ich werde sie auf der Tour verkaufen können.

Es gibt dieses mal wieder weniger Stücke, bei denen die Geige auf Gesang trifft. Dafür hast du mit Amy Lee und Elle King aber zwei mächtige Stimmen an Bord.

Ja, das sind die beiden Stücke, plus die, auf denen ich selbst ein bisschen Hintergrundgesang beisteuere. Dafür ist meine Stimme gut, aber wenn der Gesang im Vordergrund steht, dann brauche ich richtige Schwergewichte. Ich hätte niemals singen können, was Amy Lee auf „Love Goes On And On“ singt! Ich liebe sie einfach. Ich bin Fan von Evanescence seitdem ich 14 war. Amy hat mich als Künstlerin sehr beeinflusst. Letztes Jahr waren wir gemeinsam auf Tour, und jetzt ist sie nicht nur jemand mit dem ich zusammenarbeite, sondern auch meine Freundin. Jemand, den ich anrufen kann und sagen: hey Amy, möchtest du auf meinem Song singen? Es ist eine ganz besondere Beziehung, die mir sehr wichtig ist. Ich durfte eines meiner Idole treffen und bin jetzt mit ihr befreundet – wie cool ist das!

Foto © BMG

www.lindseystirling.com