Interview mit Lindsey Stirling

Lindsey Stirling ist am Vortag erst aus den USA gelandet, am Morgen um halb vier aufgestanden und war mit ihrer Geige bereits beim Frühstücksfernsehen zu Gast. Als wir uns um zehn Uhr zum Interview treffen, liegt also fast schon ein ganzer Arbeitstag hinter ihr. Trotzdem sieht Lindsey beneidenswert frisch und fröhlich aus. Und wie niedlich klein ihre goldenen Sneakers sind! Grund zur Freude hat die junge Amerikanerin aber auch genug. Gerade hat sie ihr neues Album „Brave Enough“ heraus gebracht und es in den letzten Jahren geschafft ihre Mischung aus Popmusik, Geigenspiel und Tanz Performance zu etwas ganz Eigenem zu etablieren. Im Interview erzählt sie mir davon, wie wichtig es ist, neben allem Ehrgeiz auch ein Leben zu haben, und warum verletzlich zu sein auch die größte Form von Mut sein kann. Ich lerne Lindsey Stirling als eine sehr mutige, sensible und inspirierende Persönlichkeit kennen, von der man eine Menge lernen kann.

Meine Tochter hat früher auch Geige gespielt, leider hat sie inzwischen aufgehört. Neulich meinte sie zu mir, wenn sie damals mehr Musik wie deine gespielt hätte, würde sie wahrscheinlich immer noch spielen.

Wirklich? Das ist süß. Aber ich hatte als Kind auch eine ganz klassische Ausbildung, bevor ich angefangen habe, meine eigenen Sachen zu schreiben. Es gab damals nicht viel Anderes, was man mit der Geige hätte machen können.

Aber auch für das was du heute machst, braucht man ja ein klassisches Training.

Absolut. Es macht nicht immer Spaß, aber man muss versuchen, Spaß dabei zu haben. Auch heute noch mache ich regelmäßig klassische Übungen, um im Training zu bleiben.

Es erschließt sich mir ja überhaupt nicht, wie das funktioniert was du machst, tanzen und Geige spielen gleichzeitig…

(lacht) Viel Übung!

Wie bist du überhaupt auf die Idee gekommen?

Das war ein längerer Prozess. Zum ersten Mal habe ich es für einen Wettbewerb ausprobiert. Es ging um ein College Stipendium und ein Talentwettbewerb war Teil der Entscheidung. Ich wusste, dass viele klassische Violinisten und Pianisten da sein würden und ich habe überlegt, wie ich mich von ihnen abheben könnte. Was unsere Fähigkeiten angeht waren wir alle ungefähr auf einem Level, da machte es nicht so viel Sinn zu versuchen, die anderen zu übertreffen. Also habe ich ein kleines Rock Stück für die Geige geschrieben und es choreografiert. Sehr einfache Bewegungen, aber recht effektvoll. Das Publikum hat unglaublich gut darauf reagiert, sie waren regelrecht begeistert. Es war eine ganz andere Erfahrung im Vergleich zu früheren Auftritten, wo ich einfach nur gespielt habe. Ich konnte sehen, wie sie gelächelt haben, das hat so viel Spaß gemacht. Da wusste ich, ich möchte etwas mit der Geige machen, das die Leute unterhält. Etwas, wobei die Geige zu mir passt und nicht ich zu der Geige. Über die folgenden Jahre habe ich sehr hart daran gearbeitet, bis aus ein paar Schritten richtige Tanzchoreografien wurden.

Hast du denn auch eine Tanzausbildung?

Überhaupt nicht! (lacht) Ich war tatsächlich 23 als ich angefangen habe zu tanzen. Viel zu alt! Aber ich bin das beste Beispiel dafür, dass es nie für etwas zu spät ist.

Die Geige ist ja ein Instrument, auf dem man technisch extrem gut beeindrucken kann. Es gibt diese Kinder, die mit zwei Jahren eine Geige in die Hand gedrückt bekommen und mit sechs Jahren mehrsätzige Konzerte spielen. Sowas ist natürlich wahnsinnig beeindruckend, aber ich frage mich dann immer, kommt das auch wirklich vom Herzen? Findest du es schwierig, beim Geigenspiel die Balance zwischen Technik und Emotion zu halten?

Die Leute fragen mich manchmal, was mein wichtigster Ratschlag zum Geige spielen ist. Ich finde, es geht nicht um die Noten. Das ist aber eigentlich bei jedem Instrument so. Beim Klavier muss man ja ’nur‘ die Tasten drücken und trotzdem schaffen richtig gute Pianisten es, jede Taste auf ganz besondere Art zum singen zu bringen. Das Besondere an der Geige finde ich ist, dass sie so unglaublich expressiv ist. Die Geschwindigkeit deines Vibrato, der Druck, den du auf den Bogen ausübst, all das gibt dem Spiel seine ganz eigene Qualität. Es gibt Millionen Arten wie du spielen kannst und jedes kleinste Detail macht es anders. Ich weiß, dass viele versuchen über Geschwindigkeit zu beeindrucken. Aber die richtig schweren Stücke sind oft die getragenen, langsamen. Da muss man das meiste Gefühl rein legen und gleichzeitig seine Fähigkeiten bis ins kleinste Detail feintunen.

Wie komponierst du denn auf der Geige?

Ich schreibe keine Noten auf. Wenn ich mit einem Produzenten zusammen arbeite, entsteht meistens erst einmal der Song. Dabei singe ich schon immer im Kopf mit, dann lasse ich im Spiel meine Melodien dazu entstehen. Aufschreiben muss ich sie nicht, sie landen direkt in meinem Kopf. Und bleiben zum Glück da (lacht).

Das heißt, was gibt es zuerst, einen Rhythmus?

Meistens fangen wir mit den Grundakkorden an. Dann kommt der Rhythmus, der inspiriert mich oft am meisten. Er gibt die Energie des Songs vor, dazu komponiere ich dann. So läuft es meistens.

Du hattest ja noch nie so viel Gastsänger wie auf deinem aktuellen Album.

So vieles ist neu auf diesem Album! Wir haben sieben Songs mit Vocals darauf. In der Vergangenheit waren meine Instrumentalstücke immer inspiriert von einem Thema oder einer Emotion. Wenn du Texte schreibst, musst du spezifischer werden. Ich musste genau darüber nachdenken: wenn ich auf diesem Album eine richtige Geschichte mit Worten erzählen möchte, was genau will ich dann erzählen? Worum geht es mir gerade in diesem Moment und wie teile ich das den Leuten mit? Ich bin sehr stolz auf dieses Album, darauf was es erzählt und die Emotionen, die es rüber bringt. Es erzählt eine zusammenhängende Geschichte, von vorne bis hinten.

Wie würdest du die Geschichte, die du erzählen wolltest, in Worten zusammenfassen?

Ich wollte erzählen, wie wichtig es ist, verletzlich zu sein. Deswegen habe ich das Album auch „Brave Enough“ genannt. Ich wollte beschreiben wie es ist, aus vollem Herzen zu leben. Am Anfang des Albums ist der Tenor etwas kühler, verschlossener. Mit der Zeit wird es offener, wärmer und am Ende geht es darum, dem Ruf der Wildnis zu folgen. Als ich das Album geschrieben habe, musste ich gerade mit einer Menge schwieriger Emotionen fertig werden. Sie fühlen, hindurchgehen aber dann auch oben herauszukommen. Wenn man das Schlechte immer betäubt, betäubt man irgendwann automatisch auch das Gute. Aber wenn man sich erlaubt beides gleichermaßen zu fühlen, wird das Leben viel reicher, lebenswerter und befriedigender. Davon handelt das Album.

Ist es nicht eine Herausforderung, die Gesangsstimme so einzusetzen dass die Geige, das wichtigste Element deiner Musik, nicht in den Hintergrund gerät? Spoiler: ich finde es ist sehr gut gelungen, aber ich frage mich, ob es schwierig war, diesen gleichberechtigten Effekt zu erzielen.

Oh, danke dass du das sagst! Aber ja, es ist eine Herausforderung. Sobald jemand singt, konzentriert man sich als Hörer automatisch darauf. Es war auch für die Produzenten eine Herausforderung. Man muss beim Schreiben und Arrangieren immer daran denken, dass es sich technisch gesehen um ein Duett handelt. Die Gesangsstimme und die Geige müssen miteinander spielen und jeder muss seinen Platz haben.

Denkst du, dass du in deinem Leben immer „brave enough“, mutig genug bist?

In unterschiedlicher Weise. Ich glaube es gibt so viele Aspekte des mutig seins. Auf meinem letzten Album ging es darum, die Mauern zu durchbrechen, die mich zurück halten. Ich habe lange mit Magersucht und Depression gekämpft. Es hat mich sehr viel Mut gekostet da heraus zu kommen, mir einzugestehen dass ich ein Problem habe und ihm ins Gesicht zu sehen. Dieses Album ist jetzt sozusagen der nächste Schritt. Ich bin aus meinen schlechten Mustern ausgebrochen, aber traue ich mich jetzt auch, mein Leben voll zu leben? Ich glaube, ich lerne jeden Tag mutiger zu sein. Aber es ist ein Prozess. Viele halten es ja für eine Schwäche, verletzlich zu sein. Aber es kann auch die ultimative Form des Mutes sein. Die Leute sehen zu lassen, dass man verletzlich ist, zuzugeben, dass man Fehler macht. Sich jemandem zu öffnen und zuzulassen dass er dich liebt. Es gibt nichts, was dich verletzlicher macht. Und deshalb ist es so mutig!

Wenn ich dich ansehe, wie du dich und deine Musik präsentierst, dann habe ich das Gefühl, dass du auch in deinem äußeren Auftreten immer mutiger wirst. Du hast einen sehr eigenen Stil, den du konsequent verfolgst und an dem man dich sofort erkennt.

Das freut mich sehr, dass du findest dass ich darin stärker werde. Es ist cool, sich als Künstler zu entwickeln. Man verändert sich, bleibt aber trotzdem bei sich selber. Mein Stil hat sich entwickelt, in manchen Dingen bin ich spezifischer geworden, in anderen offener.

Auf deinem ersten Albumcover sitzt du noch brav auf einer Bank und hältst deine Geige fest.

Richtig! (lacht) Aber weißt du was das Coole daran war? Ich hatte damals kein Management, niemand der mir geholfen hat, ich habe alles allein gemacht. Ich bin sehr stolz auf das, was ich damals gemacht habe. Ich habe das Outfit ausgesucht, ich habe das Bild selber mit Photoshop bearbeitet und natürlich habe ich alle Musik selber geschrieben! Ich bin seitdem so gewachsen. Und ich bin heute immer noch involviert in alles, was ich mache. Aber gleichzeitig muss man lernen loszulassen. Man muss lernen, das man nicht in allem die Beste sein muss. An dem aktuellen Albumcover hat ein ganzes Team gearbeitet und mir geholfen meine Vision zu verwirklichen. Alleine kann ich mir nicht so die Haare machen! (lacht) Es ist unglaublich bereichernd, wenn man zulässt, dass Leute sich an deiner Vision beteiligen. Als Team kann man so viel mehr bewirken. Und hey, ich habe jetzt auch ab und zu ein Leben! (lacht)

Du hast in den letzten Jahren sehr hart gearbeitet, nicht wahr?

Ja, das habe ich. Besonders deshalb ist es ab einem gewissen Punkt so wichtig loszulassen. Man kann sich nicht weiter entwickeln, wenn man immer nur arbeitet. Es war so gut für mich, irgendwann auch wieder ein Leben zu haben, damit ich auch etwas habe, worüber ich schreiben kann! Ich liebe es hart zu arbeiten. Aber ich muss auch Zeit für mich und für die Menschen in meinem Leben haben. Die Songs auf diesem Album sind sehr inspiriert von Menschen, von Begegnungen, von Beziehungen. Es steckt sehr viel von meinem Herzen darin.

Womit wir wieder beim verletzlich sein wären. Trifft es dich, wenn Menschen das, was du als Künstlerin zu erzählen und zu geben hast nicht verstehen, beziehungsweise nicht zu schätzen wissen?

Ich weiß, man sollte da eigentlich drüber stehen, aber wenn ich böse Kommentare im Internet lese, über eine Show, ein Video oder über ein Outfit das ich trage, natürlich tut das weh! Man will doch eigentlich jedem gefallen. Als Künstler ist einem das, was man tut so wichtig, man legt sein ganzes Herz hinein! Und das Negative ist überall da draußen, wenn man es sucht, kommt es einem ständig entgegen. Aber ich bemühe mich dann innezuhalten und mir zu sagen: Du hast so viel mehr positive Energie um dich herum. Mein Management, meine Tourcrew… ich habe so viel unmittelbare, direkte Unterstützung. Für jeden negativen Kommentar da draußen gibt es hunderte und hunderte von positiven. Aber natürlich sieht man oft als erstes das Negative. Warum verschwendet man überhaupt seine Zeit und seine Energie damit? Auch das ist ein Prozess, zu lernen damit umzugehen.

Interview: Gabi Rudolph

Foto: Andrew Zaeh

https://www.lindseystirling.com/