Gesehen: „Living – Einmal wirklich leben“ von Oliver Hermanus

Auf die Frage hin, was denn das Leben lebenswert macht, kann man möglicherweise antworten, dass es darum geht, die positiven Aspekte des Lebens zu erkennen, sie zu schätzen und als Quelle der Inspiration und des Glücks zu nutzen. Indem wir uns auf das Schöne und Positive im konzentrieren, können wir in anderen, aber auch in uns selbst, eine Wertschätzung für das Leben im Allgemeinen bewirken.

In „Living“ erzählt der süd-afrikanische Regisseur Oliver Hermanus zwar keine originelle, aber eine zutiefst mitreißende Geschichte von einem Mann, der seine Erkenntnis über die Begrenztheit der ihm noch verbleibenden Zeit dazu nutzt, um etwas vom „Leben“ nachzuholen, welches er bis dato stringent-engstirnig und recht apathisch vernachlässigt, bis gar nicht (aus-)gelebt hat. Nicht originell, da die Geschichte 1952 schon einmal vom japanischen Großmeister Akira Kurosawa unter dem Namen „Ikiru“ verfilmt wurde. Hier erfährt die Hauptperson, ein formloser Beamter in einer Kafkaesquen Bürokratiewelt, ebenfalls, dass er unheilbar krank ist, und beginnt, sein Leben zu hinterfragen und versucht, Versäumnisse aufzuholen. 

Dem Drehbuch zu „Living” verleiht der renommierte britisch-japanische Schriftsteller und Literaturnobelpreisträger Kazuo Ishiguro zusätzliche Prominenz, der die Handlung von „Ikiru“ gekonnt-subtil ins düstere London der Nachkriegszeit überträgt, wo Bowler- und Anzug tragende Gentlemen mit ernsten Mienen, wie ein pünktlich eleganter, peinlich aristokratischer Schwarm „Arbeiterbienen“, tagtäglich ein- und auspendeln. Unter ihnen auch Peter Wakeling (Alex Sharp), ein ängstlich und naiv wirkender, jedoch motivierter Jungspund, welcher seinem ersten Arbeitstag in der Londoner Verwaltung für öffentliche Angelegenheiten entgegenfiebert. Er gehört einer Generation an, welche krampfhaft versucht, in die „League of pencil pushing Gentlemen“ nachzurücken. Zusammen mit seinen mondän wirkenden Kollegen besteigt er den Zug gen London, worin unterwegs Rodney Williams (Bill Nighy), ein knochiger Bürokrat und gleichzeitig strenger Leiter ihrer Abteilung, zusteigt. Ein Mann weniger Worte, welcher mit geduldiger Gleichgültigkeit die stapelweisen Anträge der Bürger in eine endlose Warteschleife der abteilungsspezifischen Zuständigkeit weiterreicht, beziehungsweise in den riesigen Papierturm nicht korrekt ausgefüllter Anträge zurücklegt und sich somit jeder Verantwortung entzieht, irgendetwas für den jeweiligen Antragsteller zu bewilligen. Eine Gruppe von drei Frauen mit einem dringenden Antrag zur Bewilligung eines vom Krieg zerstörten Kinderspielplatzes wird abgewiesen und zu einer anderen Abteilung weitergeleitet. Die oft trocken genuschelte Zeile „We can keep it here for now“ führt diese sinnlos praktizierte Arbeit des Bürokratieapparats ad absurdum. 

So hoch zu Ross er auch an seinem Büroschreibtisch sitzt, desto tiefer ist Rodney Williams‘ Fall ins Leere, nachdem er bei einer regulären Untersuchung von seinem Arzt gesagt bekommt, dass er an Krebs erkrankt sei und nur noch wenige Monate zu leben habe. Geplagt von der zwangsläufigen Akzeptanz seines Schicksals und dem schambehafteten Unvermögen („It’s a little bit of a bore, really“) sich seinem Sohn und dessen Frau anzuvertrauen, begibt er sich auf eine letzte Mission: Das Leben ohne Vorbehalte zu genießen. Nach einer durchzechten Nacht erkennt er aber, dass sein Schicksal keinesfalls ein nihilistisches Dahinsiechen bedeuten muss. Ganz im Gegenteil. In seiner Angestellten Miss Margaret Harris (Aimee Lou Wood), die er ob ihrer positiven Art und Lebenslust, zutiefst beneidet und schätzt, findet er seine einzige Vertrauensperson. In einem Anfall von Sentimentalität öffnet er ihr sein Herz in einem herzzerreißenden Monolog, der dem eines Tennessee Williams’ absolut ebenbürtig ist. Hören wir kurz rein:

 „(…) What was your nickname for me again? Mr. Zombie? That’s quite true. I’ve been dead, without actually being dead. How did I become this way… all these years? I looked at you and I remembered what it was like to be alive like that. I don’t want to go from life like a child sitting in the corner not taking part… not happy nor unhappy… merely waiting for his mother to call him in (…)“. 

Selten springt dieser eine Funke über, welcher die emotionale Verbindung zwischen Figur und Zuschauer eins werden lässt. Nighys ruhig-nüchterne, empathisch-warme Darstellung versprüht eine solche Gravitas, dass ein wahrer Funkenregen auf uns niedergeht (der Gewinn als bester Hauptdarsteller bei den diesjährigen Oscars hätte diesen Funkenregen zu Nighys Trophäe verwandeln können, aber leider blieb es nur ein Funke. Schade!)Nichtsdestotrotz hält das Ende des Films aber noch eine kleine Überraschung für uns parat und so viel sei verraten: es wird garantiert kein Auge trocken bleiben. 

Zusammengefasst muss man allen Kritiken die besagen, der Film sei ein lascher Abklatsch des Kurosawa-Klassikers, Paroli bieten und beschwichtigend hinzufügen, dass „Living“ eine bewegende und visuell beeindruckende Hommage an das Original ist, ohne dabei die eigene Identität zu verlieren. Zusammen mit einem gut zusammengesetzten Soundtrack, ist „Living“ ein intimer und nuancierter Film, der sich mit Fragen des Lebens, des Todes und der Vergänglichkeit auseinandersetzt. Dabei geht es auch um die Herausforderungen, sich in einer Gesellschaft zurechtzufinden, die von bürokratischen Strukturen, „Grauen Herren“ und teils absurden Regeln geprägt ist. Regisseur Oliver Hermanus schenkt uns einen Film, der uns mit seiner elegischen und doch lebensbejahenden Art für kurze Zeit in bittersüße Melancholie versetzt. Memento Mori!