Alex Lahey im Interview: „Lachen ist ein Selbsterhaltungstrieb“

Alex Lahey ist den langen Weg von Australien über London bis nach Berlin gekommen, wo sie gerade einmal 24 Stunden Zeit hat. Wie schön, dass sie eine halbe davon widmet, sich mit mir zu unterhalten, an einem der bis dato wärmsten Tage des Jahres. Auf ihrem dritten Album „The Answer Is Always Yes“ beschäftigt sich Alex Lahey, die, wie sie selbst sagt, als „queer kid“ in Melbourne aufgewachsen ist, damit was es bedeutet, sich ständig ein wenig am Rand zu fühlen und trotzdem seinen Platz in der Mitte zu finden. Dafür ist sie neue, manchmal unbequeme Wege gegangen, hat mit mehr Menschen denn je zusammen gearbeitet und bewusst ungewohnte Erfahrungen gemacht. Das Ergebnis ist ein höchst energetisches und emotionales Album geworden, auf dem sie ihr mitreißendes Songwriting mit messerscharfer Beobachtungsgabe verbindet.

Mit einer üppigen Schale Süßigkeiten zwischen uns plaudern wir über Shitstorm im Internet, der Wichtigkeit von Comic Relief, Leben im Auge einer ständig drohenden Katastrophe, queere Initiationsriten, Filme und natürlich – Musik!

Schön dich zu treffen.

Ebenfalls! 

Wie geht es dir? Was macht das Leben?

Was macht das Leben? Das Leben ist anstrengend, aber gut. Gestern war ich ziemlich müde. Aber heute morgen habe ich ausgiebig in Ruhe gefrühstückt, das hat mich wieder aufgetankt. Das war schön. Danke, dass du fragst. 

Alle Menschen haben im Moment viel vor der Brust und sind an sehr unterschiedlichen Orten, physisch wie mental. Ich finde es wichtig, dass man erstmal miteinander eincheckt.

Absolut. Wie geht es dir?

Mir geht’s gut! Auch ein bisschen müde. Ich hatte die letzten Tage sehr viel damit zu tun, jemandem dabei zu helfen einen Shitstorm im Internet zu moderieren. 

Oh wow. Das klingt heftig. 

Hast du so etwas schon einmal erlebt? Dass etwas, das du getan hast, öffentlich für Kontroverse gesorgt hat?

Ja… sobald du eine, in Anführungszeichen, „öffentliche Figur“ bist, musst du dir stets dessen bewusst sein, dass deine Stimme lauter ist als manch andere. Einerseits ist es ein Privileg, andererseits etwas, das du mit Vorsicht genießen musst. Man muss sich dessen bewusst sein, sonst kann man in Schwierigkeiten geraten. Aber es ist wie gesagt auch etwas Gutes, wenn man lernt verantwortungsbewusst damit umzugehen. Man lernt zu denken, bevor man spricht. Und Dinge genau zu recherchieren, bevor man sich öffentlich zu ihnen äußert. Das ist nicht die schlechteste Angewohnheit. 

Ich habe großen Respekt vor jedem, der sich in das Auge der Öffentlichkeit begibt. Mir würde das ehrlich gesagt große Angst machen.

Mich macht es auch nervös. Ich würde jetzt nicht sagen, dass ich jemand bin, der es gerne allen recht machen möchte. Aber ich habe auch die Tendenz, hyper bewusst mir dessen zu sein, was um mich herum passiert und wie man mich wahrnimmt. 

Ist das nicht irgendwie normal, wenn man sich nach da draußen begibt? Möchte man nicht von allen geliebt werden?

Ich glaube schon, ja. Wollen wir das nicht alle? Irgendwie? Ich frage mich, wie es sich wohl anfühlt, wenn man die Art von Person ist, die gerne ständig und überall für Unruhe sorgt. Ich frage mich, ob das nicht wahnsinnig viel Energie verbraucht – oder sogar weniger? 

Spontan würde ich sagen mehr, aber wer weiß?

Ich weiß es auch nicht. Ich glaube, es hängt davon ab, woran man glaubt. Ich fürchte, jemanden wie mich würde es viel Energie kosten (lacht). Ich bin niemand, der bewusst Konflikte sucht. Das macht mich nicht heiß.

 Offensichtlich bist du aber jemand, die gerne Wahrheiten ausspricht, und das mit Humor. Dein Song „They Wouldn’t Let Me In“ und das Video dazu – ich habe sehr gelacht. 

Danke! Ich nehme mich selbst tatsächlich nicht ganz so ernst. Das Thema des Songs ist ja eher ein ernstes. Es geht darum, keinen Zugang zu Dingen, Räumen oder Szenen zu haben, aufgrund von wer du bist. Als jemand, die als queere Jugendliche aufgewachsen ist, habe ich das tatsächlich so erlebt. Das Thema ist also ernst, der Song ist upbeat und lustig. Alles, was ich im Vorfeld über das Video wusste war, dass ich darin tanzen wollte. Ich bin überhaupt keine Tänzerin, aber ich war sehr neugierig zu erfahren wie es ist, choreografiert zu werden. Bewegungen zu lernen und mich ihrer bewusst zu sein. Ich wollte mich bewusst in diese Situation begeben. Dann mussten wir nur noch herausfinden, wo das Ganze stattfinden sollte. In Melbourne, der Stadt in der ich aufgewachsen bin, gibt es diese Figur, er heißt Franco Cozzo. Er hat in den Achtzigern und Neunzigern Möbel verkauft und dafür nachts zu später Stunde im Fernsehen geworben. Er hat diese kitschigen Möbel im Rococo Stil verkauft, vor allem an italienische und griechische Einwanderer, die zu der Zeit in großen Scharen nach Australien gekommen sind. Er spricht in seinen Spots vier oder fünf Sprachen, damit ihn auch wirklich jeder versteht und zeigt diese Möbel… ich glaube nicht, dass ich schon einmal in einem Haus war, das so eingerichtet ist. Claire Giuffre, die bei dem Clip Regie geführt hat, hatte diesen Möbelladen am Stadtrand von Melbourne gefunden, der genau so aussah, und sie meinte, warum machen wir nicht ein Tanzvideo im Franco Cozzo Stil? Ich fand die Idee genial. Also haben wir es gemacht. Ich finde, man versteht es auch, wenn man ihn nicht kennt, was ja nicht so viele Leute tun. 

Ich finde auch, jedes Drama braucht eine gewisse Form von Comic Relief.

Absolut. Ich gucke ja wahnsinnig gerne Filme. Neulich fragte mich jemand, ob ich ein Hobby hätte, neben der Musik. Und ich dachte, ich habe gar keins. Das hat mich eine Weile richtig fertig gemacht. Ich dachte oh mein Gott, ist das wirklich alles, was ich bin? Und dann dachte ich, Filme gucken ist wahrscheinlich mein Hobby. Ich bin die letzten zehn Tage alleine gereist und bin langsam ein wenig erschöpft. Wenn ich abends ins Hotel komme, gucke ich einen Film. Aber je müder ich werde, desto weniger Energie habe ich dafür, einen guten, in Anführungszeichen, „dramatischen“ Film zu schauen. Irgendetwas muss einem dabei helfen, die Menge an Drama zu verdauen. Lachen ist ein Selbsterhaltungstrieb. Wir sind alle nur Menschen. Manchmal erreichen wir die Grenzen unserer Kapazitäten, und das ist nicht gut. 

Hast du zufällig „Der Ja-Sager“ mit Jim Carrey gesehen?

Weißt du was, tatsächlich nicht. Ist er gut?

Es geht so. Aber ich musste gerade daran denken, weil der Titel deines Albums „The Answer Is Always Yes“ ist.

Jetzt wo du’s sagst, ich sollte ihn wahrscheinlich gucken (lacht)

Es ist auf jeden Fall ein spannendes Experiment, was passiert wenn du in deinem Leben zu allem ja sagst.

Ich bin mir sicher, es geht nicht gut für ihn aus. Wahrscheinlich wird es eine Katastrophe (lacht). Vielleicht sollte ich den Albumtitel ändern…

Nein, es ist ein toller Titel! Und ich mag den Song sehr. Er ist ein super Schluss für das Album. 

Danke.

Vor allem, weil er direkt nach „They Wouldn’t Let Me In“ kommt. Und selbst wenn es vielleicht nicht stimmt, ist es eine sehr interessante Fragestellung.

Ich glaube, es kann stimmen. Ich finde, „ja“ sollte zumindest immer in Erwägung gezogen werden. „The Answer Is Always Yes“ ist für mich ein existentialistisches Statement. Der Song zerstört sich am Ende quasi selbst. Ich wollte, dass er buchstäblich in Flammen aufgeht. Man hört es vielleicht nicht wirklich, aber ich weiß dass es da ist – ich habe eine Tonaufnahme von einem Erdbeben gefunden. Am Ende vom Song gibt es dieses Grollen, einen Bass, der über allem wabert und ich wollte, dass wir die natürlichste Soundquelle nehmen, die wir finden konnten, um diese Zerstörung darzustellen. Ich habe also diese Aufnahme von einem Erdbeben gefunden und sie benutzt. Am Ende des Tages werden wir alle sterben, also sollten wir unser Leben voll und ganz leben. Was das genau bedeutet, muss jeder für sich selbst rausfinden. 

Da fällt mir direkt der nächste Film ein – kennst du „Suzume“?

Oh, das ist dieser neue Anime, oder? Den habe ich noch nicht gesehen. 

Darin ist das Erdbeben ein Wurm, der gezähmt werden muss, bevor er auf die Erde fällt und sie zum Beben bringt. 

Das ist ein interessantes Bild. Ich habe gerade viel Zeit in Los Angeles verbracht. Dort gibt es ja oft Erdbeben. Es gibt dieses Thema, dass die ganze Stadt ständig auf das „große Beben“ wartet. Es hätte eigentlich schon längst passiert sein sollen. Wenn ich mit Menschen spreche, die in LA aufgewachsen sind, habe ich das Gefühl, dass dieses große Beben immer in ihrem Kopf ist. Und ich frage mich, ob das zu der Stimmung beiträgt, die in der Stadt herrscht, dass alle ständig versuchen, das Maximum herauszuholen aus dem was sie tun, in jedem Moment. Das kann manchmal ganz schön herausfordernd sein. Vielleicht ist es das ständige Bewusstsein eines möglichen Disasters, das einen so werden lässt. 

Ich denke ja, dass Corona dieses Gefühl bei uns allen sehr verstärkt hat. 

Oh ja, definitiv. Ich glaube, am Ende des Tages geht es um Kontrolle, oder? Wir leben in einer Welt, in der wir so ziemlich alles, womit wir täglich zu tun haben, unter Kontrolle haben. Alles, was wir haben wollen, kann unser Telefon uns sofort besorgen. Wir kontrollieren unsere Umgebung. Du willst einen bestimmten Song hören? Boom, schon spielt er. Du willst den besten Burger aus deinem Lieblingsrestaurant essen? Bam, im nächsten Moment steht er vor deiner Tür. Du willst Sex mit jemandem haben, den du nie zuvor getroffen hast? Alles ist nur einen Klick entfernt. Dass die Dinge so zugänglich sind, gibt einem ein Gefühl von Macht und Kontrolle. Wenn wir also mit etwas konfrontiert werden, das wir nicht unter Kontrolle haben, wie ein Erdbeben oder eine Pandemie, oder auch kleinere, persönlichere Dinge, wie verlassen zu werden – wie gehen wir damit um? Das bringt unsere zutiefst menschlichen Seiten zutage. Verrückter Weise war die Pandemie etwas, das mich vielen Menschen in meinem Leben wieder näher gebracht hat. Meine Mutter, meine Freundinnen aus der Highschool… für jemanden wie mich, die die letzten fünf bis sechs Jahre auf Reisen verbracht hat, war das eine große Veränderung, für die ich sehr dankbar bin. Ich meine, es ist tragisch, dass das dafür passieren musste, aber für das, was dabei herausgekommen ist, bin ich sehr dankbar. 

Und auch in deiner Arbeit sagst du ja, hast du noch nie so viel mit anderen Menschen zusammen gearbeitet wie diesmal.

Ja!

Was für spannende, neue Erfahrungen. Wie du vorhin schon sagtest, zum Beispiel mit einer Choreografin zu arbeiten. Es gehört auch Mut dazu, Menschen von außen mit dazu zu nehmen und an sich ran zu lassen.

Absolut. Ich bin von Natur aus ziemlich unabhängig. Es hat mich zwei Alben gekostet zu akzeptieren, dass Zusammenarbeit Teil meines eigenen Prozesses ist. Ich will nicht sagen, dass ich nicht gerne mit anderen Menschen zusammenarbeite, im Gegenteil. Und ich bin sehr sozial, ich liebe Menschen. Ich habe nur lange nicht mehr mit jemandem zusammen gearbeitet. Es war der richtige Zeitpunkt, die Türen zu öffnen und zu gucken, was und wen es da draußen alles gibt. Wie mit der Choreografie – ein großes Thema dieses Albums ist es, unbequeme Dinge zuzulassen. Ich habe mir diese Dinge bewusst ausgesucht. Anfang des Jahres habe ich zum ersten Mal Gesangstunden genommen, eine Vorstellung, mit der ich mich sehr schwer getan habe. Und noch ein paar andere Sachen, wie zum Beispiel diesen Trip hier ganz alleine zu machen. Es kommt immer etwas dabei raus. Manchmal etwas Konkretes, manchmal nur ein Gefühl. Aber es lohnt sich immer. 

Ich mag es außerdem sehr, wie du darüber schreibst und dazu stehst, mit einem Gefühl des Außenseitertums aufgewachsen zu sein. Ich kenne dieses Gefühl sehr gut. Ich war nie eins der Cool Kids. Aber wenn ich mir meine Tochter heute ansehe, dann habe ich das Gefühl, es wird vielleicht ein wenig leichter für die „Nerds“ unter ihnen. Sie stehen mehr zu sich. 

Das finde ich so cool.

Und ist es nicht verrückt, dass es heutzutage Themen wie „queer baiting“ gibt? Neulich meinte eine Freundin zu mir – wow, erstaunlich! Zu meiner Zeit hätte niemand damit angegeben, queer zu sein.

(lacht) Definitiv niemand! Das ist so lustig. Ich bin als gay kid aufgewachsen. Mir war als Kind schon bewusst, dass ich queer bin. Als Teenager wurde mir zum ersten Mal bewusst, dass es ein Problem werden könnte. Es ist ja noch nicht so lang her, aber das war die Zeit, in der ich aufgewachsen bin. Mit 16, in Highschool, hatte ich Freundinnen, ich war offen lesbisch. Das war ziemlich ungewöhnlich, vor allem für ein Mädchen. Ich habe ungewöhnlich viel Akzeptanz und Liebe erfahren. Aber es gab trotzdem Zeiten, in denen es schwierig war. Wie deine Freundin meinte, es war nicht cool, lesbisch zu sein, nichts worauf man neidisch war. Ich meine, das ist es heute immer noch nicht wirklich. Aber an vielen Orten, wie Berlin, Melbourne oder Los Angeles, ist man heute ein bisschen geschützter. Es gibt mehr Sprache, mehr Ressourcen, mehr Menschen, mit denen man offen sprechen kann. Als Teenager hatte ich das Gefühl, dass ich bestimmte Rituale des Erwachsenwerdens verpasse, die die anderen Kids um mich herum erleben durften. Auf Parties gehen, Jungs küssen, mit der Person, in die man verliebt war, zum Schulball gehen, all solche Sachen. Das gab es für mich damals nicht. Aber später ist mir bewusst geworden, dass ich meine eigenen Rituale hatte. Sie sahen nur anders aus. Die heimliche Freundin zum Beispiel. Oder in seine Schulfreundin verliebt zu sein. Wenn ich heute mit Freunden und Freundinnen spreche, die ebenfalls queer aufgewachsen sind und wir vergleichen unsere Erfahrungen, dann sind sie sehr ähnlich (lacht). Das ist großartig! Vor allem wenn man Menschen trifft, die eigentlich ganz anders aufgewachsen sind, und trotzdem haben wir etwas gemeinsam. Es zeigt, wie wichtig Community ist und dass sie weit darüber hinausgeht, wo man herkommt. Das Wort „Stolz“ bekommt einen ganz anderen Wert. 

Foto © Pooneh Ghana