Gesehen: „Lamb“ von Valdimar Jóhannsson

Eigentlich hätte Valdimar Jóhannssons Regiedebüt auch gut zur Weihnachtszeit in den Kinos starten können, denn die Geschichte beginnt am Heiligen Abend in einem Schafstall. Das ist aber auch das einzig besinnliche an dem absurden, düsteren Mystery-Horror-Drama „Lamb“, und dass es selbst in der heiligen Nacht nicht mit rechten Dingen zugeht, beweisen die heimlichen Hauptdarsteller des Films, die Schafherde, eindrücklich in der Eingangssequenz. Etwas geschieht in dieser Nacht, das nicht für Panik, aber zumindest für stille, greifbare Unruhe sorgt. 

Im Frühjahr, es ist die Zeit der Lämmer, machen Maria und Ingvar, das Paar, das den malerisch in der Einsamkeit der isländischen Landschaft gelegenen Schafhof bewirtschaftet, erstaunt Begegnung mit der Frucht dieser Nacht. Eines der Lämmer ist anders. Wir sehen es zuerst nur in den Gesichter der beiden, daran, wie Maria am Kopf des Neugeborenen riecht – ein Zwitterwesen ist geboren worden, halb Lamm, halb Mensch. Maria und Ingvar fügen sich erstaunlich schnell in dieses seltsame Schicksal, das Kinderbett wird aus dem Schuppen, das Neugeborene aus dem Schafstall hinüber ins Familienhaus geholt und als Mitglied selbiger kompromisslos angenommen. Daran, wie schnell die nötigen Dinge zur Hand sind, aber besonders an den irritierten und gleichzeitig hoffnungsvollen Blicken, die Maria und Ingvar miteinander tauschen, wird deutlich, dass das Paar ein trauriges Schicksal teilt. Ada, wie sie das neugeborene Mädchen nennen, soll den Platz der verstorbenen Tochter einnehmen, dafür seine Andersartigkeit zu akzeptieren, fällt den beiden nicht schwer. Sie schließen die Kleine sofort ins Herz. 

Wenig erfreut davon zeigt sich die leibliche Mutter, die im stillen Protest anfängt vor dem Haus auszuharren und ihr Kind zurückzufordern. Auch Ingvars Bruder Pétur der, wieder einmal in Schwierigkeiten, plötzlich vor der Tür steht, will nicht akzeptieren, dass hier in seinen Augen ein Tier wie ein Mensch behandelt wird. Und dann ist an der Zeugung offensichtlich noch jemand beteiligt gewesen, der die Geschehnisse mit einer unheimlichen Präsenz überwacht. Es fällt einem nicht schwer zu erahnen, dass die ungewöhnliche Elternschaft, die Maria und Ingvar am Anfang so glücklich macht, wohl kaum ein gutes Ende nehmen kann. 

Dass der Isländer Valdimar Jóhannsson als Kind viel Zeit bei seinen Großeltern verbrachte, die Schafzüchter waren, merkt man seinem Regiedebüt an. Selten wurden Schafe so eindrucksvoll inszeniert, allein Adas leibliche Mutter scheint eine ganze Palette an Emotionen abrufen zu können. Aber auch die anderen tierischen Darsteller, der Hofhund und die Hauskatze, sind mit sehr viel Liebe beobachtet und nahezu erschreckend ausdrucksstark eingefangen. Was ein Glück, dass er mit Noomi Rapace und Hilmir Snær Guðnason derart großartige Besetzungen für Maria und Ingvar gefunden hat, sonst hätten die Tiere ihnen fast den Rang abgelaufen. Besonders Noomi Rapace, die erstmals vor der Kamera isländisch spricht, ist als Maria eine schaurig schöne Wucht. Ihre Verletzlichkeit und ihr gleichzeitiger Wille, ihr neues Familienglück bis aufs Blut zu verteidigen, ist von grausamer Intensität.

„Lamb“ stellt als Film eine aberwitzige Prämisse auf und lässt dabei keine Sekunde Zweifel daran, dass sie funktionieren wird. Das macht es einem als Zuschauer erstaunlich einfach, sich voll darauf einzulassen. Am Drehbuch mitgewirkt hat der isländische Autor Sjón, der unter anderem für seine Liedtexte für Björk bekannt wurde, weshalb es kaum verwunderlich ist, dass der Film mit wenigen, aber wohl gewählten Worten auskommt. Nicht nur Mensch und Tier, auch die isländische Landschaft trägt ihren Teil dazu bei, dass „Lamb“ eine faszinierende Geschichte wird, die nicht nur irritiert und zum Teil auch schockiert, sondern auch interessante Fragen stellt. Was ist denn Ada nun, Mensch oder Tier? Und hat nicht auch ein Tier das Recht, wie ein Mensch behandelt zu werden? Die bewusst graphische Auflösung des Mysteriums zum Schluss hätte es vielleicht nicht gebraucht, aber das ist ein Wermutstropfen, der bei diesem begeisternd ungewöhnlichen Film kaum durchschmeckt. 

„Lamb“ startet am 6. Januar 2022 in den deutschen Kinos.