Gelesen: Michael Chabon „Moonglow“

Es ist so schön, dass es Michael Chabon gibt. Er ist einer dieser großen amerikanischen Erzähler, bei denen sich bei jedem neuen Roman noch vor dem ersten Umblättern der Seiten wohlige Vorfreude einstellt. Weil man weiß, man kann wieder über hunderte von Seiten hinweg abtauchen. Sich bedingungslos von Figuren, Handlungssträngen und Ideen mitnehmen lassen. Vielleicht kommt es daher, dass Michael Chabon selbst ein ziemlich begeisterungsfähiger Typ zu sein scheint. Wie er in seinem Vorgängerroman „Telegraph Avenue“ über Musik und vor allem über Vinyl schreibt, das kann man nur wenn man diese Leidenschaft am eigenen Leib spürt. Sein mit dem Pulitzer Preis ausgezeichneter Roman „Die unglaublichen Abenteuer von Kavalier und Clay“ erzählt die Geschichte zweier jüdischer Cousins und deren Einfluss auf die Entwicklung der Comic-Industrie in den 40er Jahren. Mit Leidenschaft, Elan, Hintergrundwissen und den für Michael Chabon typischen Humor. Er ist ein wahrer Nerd im besten Sinne, wenn es um popkulturelles Wissen und Referenzen geht.
Sein neuestes Werk „Moonglow“ nimmt sich wieder einem Thema an, das einem, so liegt es in der Natur der Dinge, nah gehen muss: die eigene Familie. Er rekonstruiert die Lebensgeschichte seines Großvaters mütterlicherseits, anhand von Erinnerungen und Anekdoten, die jener Großvater unter dem Einfluss von Schmerzmedikamenten, den nahen Tod vor Augen, ihm auf dem Sterbebett erzählt hat. Dass es sich nicht um klassische, faktisch verbriefte Memoiren handelt, macht Chabon gleich zu Anfang deutlich:

„Beim Schreiben dieser Memoiren habe ich mich an die Fakten gehalten, es sei denn, sie wollten sich einfach nicht der Erinnerung, dem dichterischen Willen oder der Wahrheit, ich ich sie gerne verstehe, beugen.“ Wo er sich Freiheiten erlaubt habe, sei dies „mit der entsprechenden Hemmungslosigkeit“ geschehen.

Die Geschichte beginnt mit einem Mordversuch. Als der Großvater seine Stelle in einer Firma, die Haarspangen aus Klaviersaiten herstellt verliert, versucht er, seinen Chef mit einem Telefonkabel zu erdrosseln, ein Vorhaben, das eine beherzt eingreifende Sekretärin mithilfe eines in die Schulter gestoßenen Brieföffners in letzter Sekunde vereitelt. Es ist nicht die letzte skurrile Szene, die wir in den folgenden 500 Seiten erleben dürfen. Jener Großvater war Spion im zweiten Weltkrieg, er liebt Raketen, weshalb er sich in Deutschland stationiert dem Ingenieur Wernher von Braun an die Fersen heftet. Er verliebt sich in eine Frau, Chabons Großmutter, die als Jüdin den zweiten Weltkrieg überlebt hat und bereits eine Tochter hat, Chabons Mutter, derer der Großvater sich als Vater annimmt.
Auch die Großmutter ist ein wichtiger Teil der Geschichte, sie leidet an psychischen Störungen, fühlt sich von einem gehäuteten Pferd verfolgt. Die Schrecken aus ihrer Vergangenheit bleiben weitestgehend im Dunkeln, in wieweit sie darüber selbst dem Großvater die Wahrheit erzählt hat, wissen wir nicht. Dadurch wirkt das Unheil aber nur noch größer.
Das Besondere an Michael Chabon ist die Kombination aus dem was er erzählt und dem wie er es tut. Jede seiner Geschichten hat einen besonderen Rhythmus, der sich kongenial mit dem Inhalt ergänzt. In „Moonglow“ springt er wild zwischen Zeiten, Handlungssträngen und Personen hin und her, ohne dass man als Leser dabei den Faden verliert. Gleichzeitig hat man das Gefühl, völlig in den Erzählrhythmus eines unter Medikamenteneinfluss stehenden Todkranken mitgenommen zu werden. Typisch Chabon ist auch wieder der Ideenreichtum, die viele Details, die den Figuren eine ungeahnte Tiefe verleihen. Wenn der Großvater zum Beispiel viele Jahre später in Amerika bei einem Raumfahrtkongress auf den einst gejagten Wernher von Braun trifft und dieser vor seinen Augen in eine Zimmerpalme uriniert. Wenn die Großmutter in den Fünfziger Jahren im Fernsehen als Gruselgeschichtenerzählerin auftritt und ausgerechnet an Halloween verschwindet. Die detailreiche Beschreibung der Raumfahrtmodelle, die der Großvater baut, spät in seinem Leben sogar beruflich. Vieles ist witzig bis irrwitzig, genauso vieles tragisch, dazwischen jede Menge geschichtliche Fakten und kulturelle Referenzen. Und vor allem: ganz viel Liebe. Für die Personen aber auch für das Erzählen an sich. Am Ende schwirrt einem der Kopf im allerbesten Sinne. Und führt einen unweigerlich zum Anfang dieser Zeilen zurück: Es ist so schön, dass es Michael Chabon gibt.

Info: „Moonglow“ von Michael Chabon ist in deutscher Übersetzung bei Kiepenheuer & Witsch erschienen und kann hier käuflich erworben werden. Eine Leseprobe gibt es hier.

Gelesen von: Gabi Rudolph

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