Gelesen: Liv Strömquist „Ich fühl’s nicht“

Da ist sie wieder, die Frau, die unserer Gesellschaft den Spiegel vorhält wie kaum eine andere. In „Ich fühl’s nicht“, ihrer vierten auf deutsch erschienenen Graphic Novel, widmet sich die schwedische Autorin Liv Strömquist erneut der Liebe und fragt sich (und uns): warum ist es heutzutage offensichtlich so schwierig, überhaupt etwas zu fühlen? Es wird wieder zitiert, analysiert und illustriert was das Zeug hält. Zu Wort kommen diesmal unter anderem: die Soziologin Eva Illouz, der Philosoph Byung-Chul Han, der Psychoanalytiker Erich Fromm, Søren Kierkegaard, Beyonce sowie verschiedene schwedische Frauenzeitschriften. Als Protagonisten treffen wir Sokrates, die amerikanische Dichtern Hilda Doolittle, Leo Tolstoi, den Hindu-Gott Shiva und seine große Liebe Parvati, Theseus und Ariadne sowie, als roter Faden allgegenwärtig, Leonardo DiCaprio

In den letzten zehn Jahren seines Lebens führte Leonardo DiCaprio aufeinanderfolgend Beziehungen mit sieben (!) Bikini-Models in den Mittzwanzigern. Jedes mal trennte man sich freundschaftlich, in beidseitigem Einvernehmen. Nie gab es Dramen, nie wurde hinterher öffentlich schmutzige Wäsche gewaschen. Was ist da los? Wo sind denn die großen Gefühle? Gehört zur Liebe nicht auch Leidenschaft und zur Trennung nicht auch Schmerz und Tränen? Strömquist trägt Thesen verschiedener Denker zusammen und kommt zu der Erkenntnis, dass durch die Veränderungen der Werte, die unsere Gesellschaft prägen, sich auch unser Verhältnis zu Liebe und Beziehungen verändert haben. Dadurch dass heutzutage Aspekte wie Eigenständigkeit und Selbstverwirklichung viel stärker als früher das Leben bestimmen, ist auch die Liebe eine selbstzentriertere geworden. Die eigenen Bedürfnisse stehen stärker im Vordergrund. Statt erotische Bilder des Objektes unserer Begierde machen wir lieber sexy Selfies von uns selbst. Statt dem klassischen „Gegensätze ziehen sich an“ versuchen wir heute die Unterschiede zu unserem Gegenüber zu minimieren, suchen mithilfe von Algorithmen nach dem „Perfect Match“, das möglichst ein Spiegel unserer selbst sein soll. 

Aufopferung, Hingabe und Verpflichtung gegenüber anderen werden in Beziehungen eher als Schwäche gedeutet. Warum tun sich Männer heutzutage oft schwer, sich einer Frau voll und ganz zu verschreiben? Warum lassen sie einen über die eigenen Gefühle so gerne im unklaren? Strömquist und die von ihr zitierten Quellen liefern hierzu interessante Denkansätze. Spannend sind vor allem die geschichtlichen Exkurse die zeigen, dass es in früheren Zeiten genau anders herum war – einst galt es als unehrenhaft, wenn ein Mann seine einer Frau gegenüber gemachten Versprechen nicht hielt. 

Aber auch die Haltung der Frau, die heute oft versucht, eine möglichst unangreifbare Position einzunehmen, durchleuchtet Strömquist gnadenlos. Handelt es sich wirklich um erstrebenswertes „Female Empowerment“, wenn man sich den Gefühlen seines Partners gegenüber versucht so unabhängig wie möglich zu machen? Und ist es wirklich ein Zeichen von Schwäche, wenn man sein Gegenüber stärker liebt als man von ihm zurück geliebt wird? 

Letztendlich ist es das Bedürfnis überhaupt etwas zu fühlen, das jeden Menschen antreibt. Nur warum tun wir uns oft so schwer damit? Vielleicht, weil wir Gefühle stärker in „angebracht“ und „unangebracht“ kategorisieren? Weil wir, auf der Suche nach stabilem, dauerhaftem Glück versuchen, den Schmerz, der mit der Liebe oft einhergeht, zu kontrollieren? Weniger Risiko, weniger Verletzlichkeit, mehr Unantastbarkeit. Womit wir wieder bei Leonardo DiCaprio wären. Er „ist irgendwie wie eine lauwarme Herdplatte, die das Wasser nicht richtig zum Kochen bringt“, schreibt Strömquist. Man weiß (wie so oft bei ihr) nicht, ob man lachen oder weinen soll. 

Es ist wieder einmal begeisternd, mit welcher Akribie sie Thesen zusammen trägt, sie mit Geschichten, Mythen und historischen Fakten untermauert und ihnen mit ihren Illustrationen und den für sie so typischen, zum Teil urkomischen Dialogen und Randbemerkungen ihre eigene Stimme verleiht. Die Art wie sie unterhält, aufklärt, zum nach- und umdenken anregt, ist schlichtweg einzigartig. Dazu muss man, wie sie selbst stets betont, auch nicht mit allem was sie in den Raum stellt überein stimmen. Aber dieser kleine Dorn, mit dem sie einen anpiekst, der bleibt. Und so ein kleines Pieken, das ist ja immerhin schon mal ein Gefühl. 

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