Gelesen: John Boyne „Cyril Avery“

John Boyne macht es einem in der Regel nicht schwer. Seine Romane gehören zu jenen, in denen man sich leicht verlieren kann Außerdem ist er das beste Beispiel dafür, dass Produktivität und Qualität sich nicht zwingend ausschließen. „Cyril Avery“ ist bereits der 17. Roman des 1971 in Irland geborenen Autors. Er schreibt für Jugendliche und Erwachsene, hierzulande wurde Boyne vor allem durch seinen Jugendroman „Der Junge im gestreiften Pyjama“ bekannt. Mit seinem neuen Roman „Cyril Avery“ hat er sich, augenscheinlich mühelos, mal wieder selbst übertroffen.

Gewidmet hat er ihn seinem Kollegen John Irving. Dass John Boyne viel Inspiration aus dem Werk seines amerikanischen Namensvetters gezogen hat, lässt sich deutlich nachvollziehen. Besonders Irvings „Bis ich dich finde“ zollt er in „Cyril Avery“ immer wieder Tribut. In Irvings Roman ist es die (augenscheinliche) Abwesenheit des Vaters, mit der der Hauptprotagonist sein Leben lang zu kämpfen hat, bei Boyne ist es die Mutter des Titelhelden.

Mit ihr beginnt die Geschichte, in einem irischen Dorf Mitte der vierziger Jahre. Catherine ist 16 Jahre alt, sie ist schwanger, und deshalb wird sie vom Pfarrer mit einem Stiefeltritt aus der Kirche und damit für immer aus dem Heimatdorf befördert. Ein Busticket, ohne Rückfahrt natürlich, bringt sie nach Dublin, wo sie Schutz und Unterkunft durch zwei Männer erfährt, dessen Verhältnis zueinander der unerfahrenen Catherine erst später klar werden soll. Cyril erzählt seine Geschichte selbst, von der Verstoßung seiner Mutter, seiner Geburt inmitten eines blutigen Familiendramas, über seine Adoption durch das wohlhabende aber wenig emotionale Paar Avery. Über mehr als 700 Seiten hinweg kreiert John Boyne die Lebensgeschichte von Cyril Avery, sie umfasst sieben Jahrzehnte und ist somit viel mehr als ein persönliches Schicksal, in imposanten Bildern zeichnet Boyne ein Bild der Gesellschaft Irlands, die sich in ihren vom katholischen Glauben geprägten Ansichten in vielerlei Dingen von anderen europäischen Ländern abhebt.

Je mehr Cyril heranwächst, umso mehr wächst in ihm das Gefühl, dass mit ihm etwas anders ist. Im Gegensatz zu seinem besten Freund Julian Woodbead, den er bereits als Kind kennenlernt und mit dem er sich später im katholischen Jungeninternat ein Zimmer teilt, interessiert er sich so gar nicht für Mädchen. Es ist mehr Julian selbst, der ihn fasziniert. Und als wäre es nicht schon schwierig genug, sich in der Jugend über seine eigene Sexualität klar zu werden, ist das katholische Irland der sechziger Jahre zusätzlich nicht unbedingt das einfachste Pflaster für einen heranwachsenden Homosexuellen. Und nicht nur dann – faktisch ist Homosexualität erst seit den frühen Neunzigern in Irland nicht mehr illegal.

Cyrils Leben ist geprägt von unerfüllten Sehnsüchten, Geheimnissen, flüchtigen sexuellen Begegnungen, den Versuchen die von der Gesellschaft geächteten Gefühle abzulegen und ein den bürgerlichen Maßstäben gerecht werdendes Leben zu führen. Erst als ihn die Flucht vor seinem alten Leben nach Amsterdam führt (eine Stadt, die nebenbei bemerkt auch in John Irvings „Bis ich dich finde“ eine wichtige Rolle spielt), findet Cyril die wahre Liebe und lernt anzunehmen, dass sie auch „Menschen wie ihm“ in vollem Maße zusteht.

John Boyne lässt all diese Episoden, die Cyrils Leben bis ins hohe Alter umspannen, mit regelrechter Wucht lebendig werden. Schonungslos, schmerzhaft, aber genauso voller Humor und Zärtlichkeit. Jede seiner Figuren behandelt er mit gnadenloser Direktheit, sucht in ihnen aber auch immer das Herz, wie zum Beispiel die kettenrauchende Adoptivmutter Maude, die wie eine Besessene Bücher schreibt, jegliche Form von literarischem Erfolg jedoch verachtet und zum Glück nicht mehr miterleben muss, wie sie nach ihrem Tod zu einer der größten Schriftstellerinnen Irlands aufsteigt. Schrecklich ist das, und gleichzeitig urkomisch.

Seine Geschichten und Figuren sind originell, ohne dabei bemüht zu wirken. Dass er mit den Zufällen, durch die die Protagonisten immer wieder zusammen geführt werden recht großzügig verfährt, stört dabei nicht. Im Gegenteil, dieser märchenhafte Touch bildet einen klugen Kontrast zu den Grausamkeiten des Alltags, die in „Cyril Avery“ immer wieder gnadenlos zuschlagen. John Boyne ist ein ganz großer Roman gelungen, der von menschlicher Grausamkeit im Namen der Religion, sexueller Identitätsfindung und, schlicht und ergreifend, der Suche nach Nähe, Liebe und Familie handelt und dazu ganz wie nebenbei ein Sittengemälde der letzten sieben Jahrzehnte zeichnet. Unterhaltungsliteratur in Perfektion: spannend, brutal, herzlich, urkomisch und vor allem unglaublich menschlich.

Info: „Cyril Avery“ von John Boyne ist im Piper Verlag erschienen und kann hier käuflich erworben werden. Dort gibt es auch eine Leseprobe.

Gelesen von: Gabi Rudolph

www.piper.de