Gelesen: Dirk von Lowtzow „Aus dem Dachsbau“

Die Band Tocotronic und ich, ich gebe es zu, das ist nie eine wirklich große musikalische Liebe geworden. Das mag mitunter daran liegen dass damals, es war das Jahr 1996, meine damaligen Mitbewohnerin besessen von dem Album „Wir kommen um uns zu beschweren“ war, dies quasi rund um die Uhr in ohrenbetäubender Lautstärke durch die Wohnung schallte und wir zu diesem Zeitpunkt nicht das beste Verhältnis zueinander hatten. Tatsächlich gab es sogar einen Versuch, mithilfe von Tocotronic unser zerrüttetes Verhältnis wieder zu kitten, und zwar mit Hilfe von zwei Konzertkarten, die wochenlang erwartungsvoll an unserem Kühlschrank hingen. Letztendlich stritten wir uns an dem besagten Tag so heftig, dass die Karten ungenutzt in den Müll wanderten. Kurz darauf bin ich ausgezogen, Tocotronic habe ich bis heute nie live gesehen.

Den Einfluss, den Tocotronic mit ihrer Musik und ihren Texten mit 12 Alben in mehr als 25 Jahren Bandkarriere auf mehr als eine Generation hatten, möchte ich dabei gar nicht klein reden. Im Gegenteil, ich schäme mich sogar ein bisschen dafür, wenn eine Bewegung, deren Wichtigkeit ich voll anerkenne, irgendwie an mir vorbei geht. Nun hat Tocotronic Frontmann Dirk von Lowtzow ein Buch geschrieben, und Bücher lese ich bekanntermaßen ja sehr gerne, tatsächlich auch mit großem Interesse solche von Menschen, die mir als Künstler auf den ersten Blick nicht ganz so nah stehen. Ich bin zum Beispiel auch nicht der größte Ärzte-Fan und hatte trotzdem viel Spaß mit Bela B Felsenheimers Romandebüt „Scharnow“. „Aus dem Dachsbau“, wie Dirk von Lowtzows Werk heißt, ist ein kleines, persönliches ABC Büchlein mit insgesamt 72 Texten, die den 26 Buchstaben des Alphabets zugeordnet sind, dazu kommen persönliche Fotografien und Skizzen. Man kann sie entweder chronologisch hintereinander weg lesen (was, wenn man einmal dabei ist, erstaunlich schnell geht), je nach Lust und Laune zum Querlesen in die Hand nehmen, oder, im Idealfall, einfach beides.

„Schreib alles auf. Dann wirst du lernen, die Zeit zu überlisten“, ist das Fazit der letzten Geschichte „Zeit“. Dieses Fazit wird nicht umsonst im Klappentext zitiert, es fasst perfekt den Tenor von Dirk von Lowtzows Texten zusammen. Sie sind ein Sammelsurium aus erlebten Begebenheiten, Gedankengängen, Kindheitserinnerungen und Essay-haften Überlegungen. Manchmal schauen Tiere vorbei, wie der nachts zu Besuch kommende, singende „Operettenbär“. Oder der titelgebende Dachs, den Dirk von Lowtzow als Jugendlicher als Comic-Helden zeichnete und als den er sich heute, mit ergrautem Haupthaar, selbst sieht. Vieles findet hier mit nahezu verspielter Leichtigkeit seine Bedeutung, sei es die ABBA hörende Nachbarin oder die eigene Leidenschaft für Coca-Cola. Geschichte Nummer 8, Buchstabe C. Coca-Cola! Wer hätte gedacht, dass sich schon auf Seite 27 eine elementare Gemeinsamkeit zwischen Dirk von Lowtzow und mir offenbaren wird. Wie er beschreibt, dass es als Kind ein Glas Cola (oder besser noch: Spezi!) nur im Restaurant gab und dass er dieses vor Aufregung meist nach den ersten paar Schlucken umkippte – das bin doch ich! Ich wage gar nicht nachzuzählen, mit wie vielen umgekippten Gläser Cola ich in meiner Kindheit die Nerven meiner Eltern strapaziert habe.

Dirk von Lowtzow hätte es mir aber auch nicht schwer gemacht ihn zu mögen, wenn uns nicht die gleiche Coca-Cola-Besessenheit verbinden würde. Oder die Vorstellung, die Welt um uns herum werde in Wirklichkeit von Aliens beherrscht (sind das eigentlich zwei sehr schräge Gemeinsamkeiten?). Besonders berühren mich seine Kindheits- und Jugenderzählungen, wie die Erinnerungen an einen mit 26 Jahren an einem Gehirntumor verstorbenen Jugendfreund oder die Geschichte einer mißglückten Jugendfreizeit an der Seite von eben jenem Freund. Aber auch Orte weiß Dirk von Lowtzow eindrücklich zu beschreiben. Wenn er über Berlin schreibt, weiß ich sofort wieder, was ich an dieser Stadt so liebe. Und dass die Erzählungen, die im Zusammenhang mit der Band stehen wenig dem Klischee der üblichen Musikergeschichten entsprechen, ist wenig verwunderlich, dafür umso schöner.

„Aus dem Dachsbau“ ist ein kluges, poetisches, schwermütiges Sammelsurium von Geschichten. Trotz der alphabetischen Struktur wirkt es wie ein skizzenhafter Blick in das Schaffen von Dirk von Lowtzow und damit sehr nah, privat und persönlich. Dass sich mir auf diese Weise doch noch ein Teil der Welt von Tocotronic erschlossen hat, empfinde ich als große Bereicherung. Vor lauter Übermut habe ich dann auch gleich angefangen, ein paar alte Tocotronic Songs zu hören – und erneut festgestellt, dass Dirk von Lowtzows literarisches Schaffen mir wohl mehr liegt als sein musikalisches. Aber das ist auch okay so.

Eine positive, persönliche Geschichte verbindet mich übrigens doch noch mit Tocotronic. Und zwar diese Nacht, die ich Anfang der 2000er Jahre unverhofft in der ehemaligen WG von Bassist Jan Müller verbracht habe… ach, das Anekdoten erzählen, das überlasse ich dann doch lieber Dirk von Lowtzow.

Info: „Aus dem Dachsbau“ von Dirk von Lowtzow ist bei Kiepenheuer & Witsch erschienen und kann hier käuflich erworben werden. Eine Leseprobe gibt es hier.

Gelesen von: Gabi Rudolph