Gelesen: Claire Fuller „Bittere Orangen“

Etwas mehr als ein Jahr ist vergangen, seitdem Claire Fullers Roman „Eine englische Ehe“ bei uns erschienen ist, nun steht bereits der Nachfolger „Bittere Orangen“ in den Läden. Wie schnell und auf welch hohem Niveau die englische Autorin nachlegt, spricht für ihre Produktivität gleichermaßen wie für ihr Talent. Auch kristallisiert sich deutlich eine erzählerische Handschrift heraus. Ihre Faszination für das England der sechziger und siebziger Jahre, das Verweben von Gegenwart und Vergangenheit, wie sie nach und nach das Schicksal ihrer Hauptperson enthüllt, in diesen Aspekten reiht sich „Bittere Orangen“ perfekt in Claire Fullers Erzählkosmos ein.

Nach der ungestümen englischen See, die in „Eine englische Ehe“ eine entscheidende Rolle gespielt hat, nimmt sie uns diesmal einen Sommer lang mit auf einen alten, verfallenen Landsitz. Frances Jellico hat ihr Leben lang mit ihrer Mutter zusammen gelebt und diese in den letzten Tagen ihres Lebens bis zum Tod gepflegt. Fast 40 Jahre alt, alleinstehend und ohne Freunde kommt ihr das Angebot recht, einen Bericht über die Gartenarchitektur des Landsitzes der Lyntons zu schreiben, mit dem der neue Besitzer aus Amerika sie in seiner Abwesenheit beauftragt. Frances löst ihre Wohnung in London auf und macht sich auf, um für ein paar Wochen mit einigen wenigen Habseligkeiten nach Lyntons zu ziehen. Seit dem Tod der Mutter völlig auf sich allein gestellt ist sie keine Meisterin der gesellschaftlichen Umgangsformen, ihre sozialen Kontakte beschränkten sich zu Lebzeiten fast ausschließlich auf ihre Mutter. So ist Frances erst einmal irritiert, dass sie auf Lyntons nicht wie erwartet allein sein wird. Mit ihr im Haus wohnt ein Ehepaar, der ungefähr gleichaltrige Peter und seine jüngere Frau Cara. Peter hat den Auftrag, den Zustand des Hauses und dessen Ausstattung zu dokumentieren. Das Paar, der attraktive, freundliche Peter und die überschwängliche, leicht exzentrische Cara, nehmen Frances sofort in ihrer Mitte auf. Zum ersten Mal erlebt sie Freundschaft und gleichzeitig das ihr bis dato unbekannte Gefühl, sich zu einem Mann hingezogen zu fühlen.
Es ist Sommer, die Hitze steht über dem Anwesen. Die ursprünglichen Aufgaben treten immer mehr in den Hintergrund. Man lebt in den Tag hinein, isst, trinkt und raucht gemeinsam, und Frances, durch ihre Zurückhaltung die geborene Zuhörerin, erfährt nach und nach Caras Lebensgeschichte, die zunehmend skurril anmutet. Cara behauptet ein Kind empfangen zu haben, ohne jemals Sex gehabt zu haben, und dass jenes Kind unter dramatischen Umständen ums Leben gekommen sei. Frances möchte ihr glauben, eine gute Freundin sein, gleichzeitig fühlt sie sich zu Peter hingezogen und steigert sich mehr und mehr in das Gefühl hinein, die bessere Frau für ihn sein zu können. Als die drei einen geheimen Raum finden, indem die Familie Lynton ihre Reichtümer versteckt hat, bevor das Gut während des zweiten Weltkriegs requiriert wurde, rückt der ursprüngliche Grund für die Anwesenheit des Trios endgültig in den Hintergrund. Vor allem Peter und Cara bemächtigen sich ungehemmt der Möbel, Kleider und anderer Schätze. Als der Besitzer Lyntons kurzfristig seine Ankunft ankündigt, droht die Katastrophe. Und tritt auch ein, aber anders und noch dramatischer, als man es vermutet hätte.

Zwanzig Jahre später liegt Frances Jellico im Sterben. In einer nicht näher benannten Einrichtung erhält sie regelmäßig Besuch von einem Vicar, der versucht ihr zu entlocken, was damals auf Lyntons wirklich passiert ist. Nach und nach enthüllt sich die Tragödie.

Das tut sie aber weniger mit Spannung als mit Ruhe und psychologischem Fingerspitzengefühl. Claire Fullers Erzähltempo gleicht den sich in der Hitze dahinziehenden Sommertagen, die Frances, Cara und Peter auf Lyntons meist untätig dahinziehen lassen. Die Atmosphäre ist aufgrund der Hitze drückend, das Haus ist verfallen, der Garten verwildert, selbst die dort wachsenden Orangen sind bitter und verdorrt. Wie man es von Claire Fuller bereits gewöhnt ist, fällt es auch hier nicht so leicht, mit den Protagonisten warm zu werden. Frances, in ihrer sozial unerprobten, altjüngferlichen Art ist für Peter und Cara genauso schwer zugänglich wie für den Leser. Cara schwankt zwischen Hysterie und Depression, sie fasziniert zwar mit ihrer extrovertierten Art, ist aber mit ihrem Hang zu Lügen und Fantastereien auf die Dauer eher schwer zu mögen. Am meisten jeglicher Zuordnung entzieht sich Peter, der zwar versucht, für Cara bedingungslos da zu sein und sich Frances als guter Freund anzubieten. Warum er für beide Frauen nun so attraktiv ist, erschließt sich nicht so recht, zumal er sich auch noch um eine frühere Ehefrau zu kümmern hat, die er für Cara verlassen hat. Trotzdem, und das ist der interessante Widerspruch an Claire Fullers Arbeit, wohnt man dem Tun der drei mit anhaltendem Interesse bei, auch wenn über weite Strecken im Spannungsbogen eher wenig passiert.

Atmosphärisch bietet „Bittere Orangen“ den perfekten Lesestoff für diesen Herbst, über dem immer noch ein Hauch der Hitzewelle dieses gnadenlosen Sommers liegt. Die Schwere, mit der die Hitze auf Lyntons lastet, wird greifbar und steht in interessantem Kontrast zu der eher kühlen erzählerischen Distanz, die Claire Fuller stets wahrt. Und bei allem wohl dosierten Drama ist es vor allem die Orientierungslosigkeit der Figuren, die einen berührt. Man muss bereit sein sich auf die Geschichte einzulassen, dann hallt sie lange nach.

Info: Claire Fuller lebt in Winchester, England. „Bittere Orangen“ ist ihr dritter Roman, der zweite, der in deutscher Übersetzung im Piper Verlag erschienen ist. Kauflink und Leseprobe gibt es hier

Gelesen von: Gabi Rudolph

www.piper.de
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