Gehört: St. Vincent „Daddy’s Home“

Die Tatsache, dass St. Vincent aka Annie Clark eine Ausnahmekünstlerin ist, wird schon lange nicht mehr infrage gestellt. Kaum eine Künstlerin hat es geschafft einen derartigen Erfolg zu erzielen, ohne dabei in den generischen Mainstream abzurutschen. Nun, vier Jahre nachdem ihr letztes Album „Masseduction“ erschien, präsentiert uns die 38-jährige New Yorkerin ihr nächstes Werk „Daddy’s Home“. „Daddy’s Home“ erzählt eine Geschichte. Ihre eigene. 

Sie begann das Album Ende 2019 zu schreiben, zeitgleich mit der Entlassung ihres zuvor für fast 10 Jahre inhaftierten Vaters. Sie verarbeitet in den Songs jedoch nicht nur dies, sondern auch, was die Inhaftierung und die Abwesenheit ihres Vaters mit ihr selbst und ihrer Familie gemacht haben. Als Annies Vater fortgehen musste, fand sie zu den Platten ihrer Jugend zurück. Das merkt man „Daddy’s Home“ an. Denn die 14 Song ihres sechsten Albums schreien nur so nach Annies persönlichen Helden wie David Bowie, Lou Reed und Joni Mitchell

Mit jedem St. Vincent Album verkörpert Annie einen neuen Charakter. Es scheint fast so, als wenn „Daddy’s Home“ das erste Album wäre, mit dem sie sich selbst abbildet. Durch ihr Storytelling und die bildlichen Beschreibungen von Szenen in New York, untermalt von Sirenen, Radiorauschen, Stöhnlauten und Geschrei, fühlt es sich so an, als würde sie uns in das New York der 70er Jahre katapultieren. Dazu trägt jedoch nicht nur Annies Songwriting bei. Sie springt musikalisch von verträumten 70s Balladen zu psychedelischen Rocknummern und von souligen Backup-Sängerinnen zu theatralischen Jazzeinlagen. Sie malt uns ein Bild davon, wie es für sie gewesen sein musste, all die Jahre auf die Freiheit ihres Vaters zu hoffen und zu warten. 

„Pay Your Way in Pain“, der erste Tracks des Albums, baut eine Brücke zwischen „Masseduction“ und „Daddy’s Home“ und zeigt uns, dass St. Vincent der Sinnlichkeit ihrer Musik treu geblieben ist. Gleichzeitig bereitet uns der Song darauf vor, was uns auf dem Rest des Albums erwartet. Bereits hier wird klar, dass Annie dieses Album als Chance sah ihre Geschichte selbst zu erzählen, wie sie es für würdig hält. Sie selbst beschrieb dies als „flawed people doing their best to survive”.

Wie sehr sie die Beziehung zu ihrem Vater tatsächliche beeinflusst hat, wird jedoch nicht nur durch die Einflüsse des Albums verdeutlicht, sondern auch mit ihren Texten.„I signed autographs in the visitation room, waiting for you the last time, inmate 502“singt sie in dem titelgebenden Song „Daddy’s Home“oder „What in the world, would my baby say? I got your eyes and your mistakes“ in „My Baby Wants a Baby“ (das übrigens eine Verneigung vor „Morning Train (9 to 5)“, dem 80er Superhit von Sheena Easton ist). Ebenso das Thema New York, welches genau wie die Beziehung zu ihrem Vater eine Konstante durch das Album bildet, generiert sich aus dem Fakt, dass sie diese Stadt mit ihrem Vater verbindet. Während sie von roten Rosen aus der Bodega, braunem Likör und hohen Schuhen im Morgenzug auf dem Weg Nachhause singt, romantisiert sie New York und den Shabby-Chic Glamour der frühen 70er Jahren und wandert dabei gekonnt auf einem schmalen Grat zwischen Ehrlichkeit und Selbstinszenierung.

Auch wenn „Daddy’s Home“ eventuell nicht St. Vincents spektakulärste oder mutigste Veröffentlichung ist, gibt es eins, was sie besonders macht. Annie entzieht dem Album die Schnelllebigkeit, die wir alle nur zu gut kennen. Sie nimmt sich Zeit die Tracks aufzubauen und wirken zu lassen. Damit gibt sie den Hörer*innen gleichzeitig Zeit dem Trubel zu entfliehen und sich einfach von ihrer Stimme, den lyrischen Bildern die sie erschaffen hat und der Vielschichtigkeit der Instrumentalisierung berieseln zu lassen.