Wir haben die Feiertage und die Zeit zwischen den Jahren genutzt, unseren Lesestapel aus dem letzten Jahr abzuarbeiten. Die ersten Neuerscheinungen aus 2019 haben wir schon auf dem Tisch, aber diese vier 2018 erschienenen Titel solltet ihr auch dieses Jahr noch auf eure Leseliste setzen.
Tara Westover „Befreit“
Tara Westover wächst mit ihrer Familie in der Abgeschiedenheit Idahos am Fuße eines Berges auf. Ihr Vater betreibt einen Schrottplatz, später ein Bauunternehmen, ihre Mutter arbeitet als Hebamme und kommt später mit ihren eigenen Kräutermischungen zu großem Erfolg. Tara geht ans College, wo sie mit dem Master of Philosophy abschließt, sie studiert in Harvard und promoviert schließlich in Cambridge in Geschichte. Das Besondere an ihrer Geschichte: Tara hat nie eine Schule besucht. Während die Eltern ihre älteren Brüder bereits früh aus der Schule nehmen, wird sie gar nicht mehr hin geschickt. Ihr Vater, ein fundamentalistischer Mormone, bereitet sich und seine Familie auf das Ende der Welt vor, es werden Waffen, Benzin und Vorräte gehortet. Sein Ziel: die völlige Unabhängigkeit vom Staat, denn das Ziel sämtlicher öffentlichen Institutionen ist in seinen Augen die gezielte Gehirnwäsche der Bürger. Allen voran Schulen und Krankenhäuser, weshalb selbst schlimmste Krankheiten und Verletzungen bei den Westovers nur mithilfe selbsthergestellter Salben und Tinkturen behandelt werden.
Als Taras ältester Bruder ihr gegenüber zunehmend gewalttätig wird, fängt sie an, die Blase, in der ihre Familie lebt, zu hinterfragen. Es dürstet sie regelrecht nach dem, was es Zuhause nicht gibt – Bildung. Im Alleingang bereitet sie sich auf die Collegeprüfung vor, ohne je eine Highschool von innen gesehen zu haben. Mit viel Kraft und Willen, und nicht zuletzt auch durch ihr außergewöhnliches Talent, schafft sie es bis an eine der besten Universitäten Europas. Aber bis dahin ist es ein steiniger Weg. Tara muss nicht nur feststellen, dass obwohl sie es ans College geschafft hat, ihr Wissen immer noch rudimentär ist, auch hat sie nie gelernt, wie man sich Wissen richtig aneignet. Ihr Werdegang ist außerdem ein Kampf um die eigene Unabhängigkeit und damit gegen die Familie, die ihre Sehnsucht nach Bildung als Versuchungen des Teufels sieht und sich weigert, den Missbrauch durch den Bruder als Realität anzuerkennen.
Tara Westovers Geschichte ist schockierend und gleichzeitig inspirierend. Sie erzählt sie kraftvoll, mitreißend und sprachlich stilsicher. „Befreit“ ist ohne Zweifel eines der besten Bücher des letzten Jahres.
Erschienen bei Kiepenheuer & Witsch
Paul Beatty „Der Verräter“
Wir beginnen mit einer Verhandlung vor dem Obersten Gerichtshof der USA. Der namenlose Erzähler muss sich hier für höchst sonderbare Vergehen verantworten: er hat versucht, in seinem Heimatort Dickens, einem Vorort von Los Angeles, die Rassentrennung wieder einzuführen. Außerdem hat er auf seiner Farm, auf der er Marihuana und die besten Wassermelonen weit und breit anbaut, einen Sklaven gehalten. Der Erzähler, selbst Afroamerikaner, verfolgte damit das Ziel, seinen Heimatort Dickens, dessen Namen im Zuge der Gentrifizierung gelöscht wurde, wieder als Ort auf die Landkarte zu bringen. Außerdem hat sein Sklave ihn sich selbst als Herr ausgesucht. Hominy, ein alternder ehemalige Kinderschauspieler und in seiner Kindheit der einzige afroamerikanische Darsteller der „Kleinen Strolche“, bietet seine Dienste regelrecht penetrant an. Ausgepeitscht wird dafür auch nur donnerstags. Den ersten Schritt zur Wiedereinführung der Rassentrennung beginnt mit einem Schild in dem Linienbus, den Marpessa, des Erzählers große Liebe, durch Los Angeles fährt. Dann ist die örtliche Schule von Dickens dran.
Das ist nur grob die Rahmenhandlung des vor Absurditäten, Wortspielen und popkulturellen Referenzen strotzenden Romans, für den Paul Beatty als erster Amerikaner den britischen Man Booker Prize gewann. Philosophische Treffen in einem Donut-Laden, die vielleicht seltsamste Vater-Sohn-Beziehung der jüngeren Literaturgeschichte und die immer wiederkehrende Beschreibung der verrücktesten, rassistischsten „Kleine Strolche“ Filme, die man sich vorstellen kann, sind nur ein Bruchteil dessen, was hier passieren. Das ist manchmal anstrengend, die meiste Zeit aber brüllend komisch, wenn der Wortwitz zum Teil auch unter der Übersetzung leidet. Eine intelligente Satire, die Spaß macht, wenn einem das Lachen auch gerne mal im Hals stecken bleibt.
Erschienen bei Luchterhand
Annette Hess „Deutsches Haus“
Die Familie Bruhns betreibt Anfang der sechziger Jahre in Frankfurt die Wirtschaft „Deutsches Haus“. Tochter Eva ist gelernte Dolmetscherin, eigentlich in Vertrags- und Wirtschaftsangelegenheiten, aber dann wird sie überraschend gebeten, die Aussagen der polnischen Zeugen für einen Prozess zu übersetzen. Es handelt sich um den ersten Auschwitz-Prozess, bei dem sich hohe ehemalige Nazi-Generäle für ihre Taten während des zweiten Weltkrieges verantworten müssen.
Der Prozess stellt Evas Leben komplett auf dem Kopf. Ihr Verlobter Jürgen ist gegen ihre Arbeit, und vor Gericht sieht sie sich gnadenlos mit dem wahren Grauen konfrontiert, das in den Konzentrationslagern des dritten Reiches herrschte. Auch ihre Eltern sind, wie so viele andere, von dem Nutzen des Prozesses nicht wirklich überzeugt und geben sich dem Thema gegenüber ungewohnt reserviert. Am Ende muss Eva erkennen, dass die Welt um sie herum nicht so ist, wie sie glaubte sie zu kennen. Während des Prozesses durchläuft sie ihren eigenen, schmerzhaften Prozess der Wahrheit und des Erwachsenwerdens.
Annette Hess zeichnet als Drehbuchautorin mit den Serien „Weissensee“ und „Ku’damm 56/59“ für zwei der besten Formate verantwortlich, die das deutsche Fernsehen in den letzten Jahren zu bieten hatte. Hier zeigt sich schon, dass sie historische Stoffe akribisch recherchiert und gleichzeitig ein gutes Gespür für den Alltagskolorit der jeweiligen Zeit hat. „Deutsches Haus“, ihr erster Roman, lebt ebenfalls vor allem von diesem Talent. Stilistisch wirkt er zum Teil etwas holprig, manchmal erzählt Annette Hess fast schon zu bildlich, die immer wieder eingestreuten poetischen Beschreibungen wirken oft bemüht. Das ändert aber nichts daran, dass „Deutsches Haus“ durchgehend spannend ist, wohl strukturiert und inhaltlich, vor allem was das Thema der Verdrängung angeht, genau zur rechten Zeit kommt.
Erschienen bei Ullstein.
Philippe Djian „Marlène“
Die Kindheitsfreunde Dan und Richard haben gemeinsam in Afghanistan gekämpft. Zurück in ihrer Heimat Frankreich versuchen sie mühsam, sich wieder im Alltag zurechtzufinden. Während Dan seinem Job in einem Bowlingcenter nachgeht, stürzt sich Richard, frisch nach einer dreimonatigen Strafe aus dem Gefängnis entlassen, gleich in die nächsten Schwierigkeiten. Seine Frau Nath arbeitet in einem Hundesalon, wo sie Unterstützung von ihrer Schwester Marlène erhält, die überraschend in der Stadt aufgetaucht ist. Zwischen all dem Naths und Richards pubertierende Tochter Mona und Naths immer anhänglicher werdender Liebhaber Vincent- eine explosive Mischung.
Marlène ist ein seltsamer Charakter, irgendwo zwischen tollpatschig und geheimnisvoll. Schnell gesteht sie ihrer Schwester Nash dass sie schwanger ist und der Kindsvater sie vor die Tür gesetzt hat. Aber irgendwie findet sie einen Draht zu Dan, und eine zeitlang sieht es so aus, als würden die Freunde sich zusammen raufen. Doch Marlène traut sich nicht, Dan von ihrer Schwangerschaft zu erzählen und Richard ist überzeugt, Marlène habe einen schlechten Einfluss auf Nath. Alle sind so verstrickt in ihr persönliches Chaos, das sie das wahre Drama nicht kommen sehen.
„Marlène“ ist sprachlich messerscharf, inhaltlich kühl beobachtend. Dabei lässt er vieles um Unklaren, als würde er uns nur für einen Moment in das Leben seiner Protagonisten hinein blicken lassen und wir dürften nicht erwarten, sie in dieser Zeit richtig kennenzulernen. Verstörend und bitterböse – ein typischer Djian eben.
Erschienen bei Diogenes.