Auch im Jahr 2024 gibt es noch diese seltsamen, aber weit verbreiteten Vorurteile gegenüber elektronischer Tanzmusik. Erstens: dass es sich um ein minderwertiges Genre handelt, das weniger musikalische „Fähigkeiten“ erfordert als Rock oder Pop. Zweitens: Dance kann, anders als andere Genres, keine emotionale Wahrheit ausdrücken. Sicher, man kann sich eine Pille einwerfen und sich dazu berauschen, aber der emotionale Aspekt wird als etwas gesehen, das außerhalb der Musik liegt, etwas, das nur der Hörer mitbringt. Drittens – und das wird eher hinter vorgehaltener Hand geflüstert – haben Frauen in dem Genre einfach keinen Erfolg. Vielleicht Romy Madley Croft von The xx, aber das war’s auch schon mit großen weiblichen Dance-Acts, die als Headlinerinnen auftreten.
Auf „Brat“, ihrem sechsten Album, nimmt Charli XCX all diese Missverständnisse mit dem Vorschlaghammer aufs Korn. Dabei setzt sie auch eine weitere „Wahrheit“ der Branche in Brand: dass ein Album nicht gleichzeitig experimentell, von der Kritik gelobt und kommerziell erfolgreich sein kann. Aber Charlotte Emma Aitchison ist ja auch nicht irgendeine Künstlerin.
Ihre Fans nennen Charli XCX einfach „Mother“. Das passt, denn es zeigt nicht nur ihre Langlebigkeit in der Musikindustrie, sondern auch ihren Status innerhalb der Queer-Kultur. Noch bevor die meisten der angesagten neuen Acts des Jahres 2024 die Schulbank drückten, stand die heute 31-jährige XCX bei Underground-Raves in London an den Decks. Damals war sie noch minderjährig und wurde von ihren Eltern begleitet. Selbst ihr Künstlername ist eine Reminiszenz an ihre Vergangenheit: Er war ihr Benutzername bei MSN Messenger, der längst nicht mehr existierenden Plattform, aus der Instagram, Snapchat und Tiktok hervorgegangen sind. XCX wurde anfangs als ein weiteres Pop-Sternchen vermarktet, hatte aber immer den Wunsch nach so viel mehr und war auch zu so viel mehr fähig. Ende der 10er Jahre leistete sie in kreativer Partnerschaft mit den Produzenten A.G. Cook und SOPHIE Pionierarbeit für das Hyperpop-Genre und arbeitete mit vielen queeren Künstlern zusammen, darunter Kim Petras und Troye Sivan, bevor es zum Trend wurde. XCX hat sich auf ihrem Weg einen Ruf für Innovation, Offenheit und eine phänomenale Arbeitsmoral erworben. Anfang 2020, als die meisten von uns die Trümmer ihres alten Lebens trauerten, rief XCX ihre treue Fangemeinde zur Zusammenarbeit auf und bat sie, an dem Projekt mitzuarbeiten, das zu ihrem bis dahin von der Kritik am meisten gefeierten Album „How I’m Feeling Now“ wurde. Wenn wir nicht zu ihrer Party kommen konnten, brachte sie die Party zu uns.
Dann kam „Crash“, XCXs Experiment mit kommerziellem Dance-Pop, bei dem sie sich in ihren Texten und ihrer Bühnenshow mit männlichen Tänzern auf eine Weise sexualisierte, wie sie es nie zuvor getan hatte. Diese neue Richtung brachte ihr den bis dato größten kommerziellen Erfolg, aber auch die schlechtesten Kritiken ein, da die Kritiker das Gefühl hatten, sie habe aus den Augen verloren, wer sie als Künstlerin wirklich war. Jetzt sagt sie, dass sie große Teile des Albums selbst nicht mehr hören kann.
Bei „Brat“ gibt es keine derartigen Vorbehalte. Vom grellgrünen Cover, auf dem nur der Albumtitel in großer schwarzer Schrift zu lesen ist, bis hin zu den fünfzehn tanzbaren Tracks weiß das Album nicht nur, wer es ist, sondern macht es auch schier unmöglich, es nicht zu lieben. „I went my own way and I made it, I’m your favourite reference baby“, singt XCX im Eröffnungstrack „360“. Mit A.G. Cook am Steuer – auf „Crash“ arbeitete XCX meist mit anderen, mainstreamigeren Produzenten zusammen – fühlt sich „Brat“ ein bisschen so an, als würde man „How I’m Feeling Now“ in seine erste Clubnacht nach Covid mitnehmen, mit allen Höhen und Tiefen, die diese zu bieten hat.
Das Album beginnt damit, dass man sich zu Beginn des Abends im Spiegel bewundert (der basslastige Ohrwurm „360“), um sich dann zu dem vibrierendsten Track, den man je gehört hat, auf die Tanzfläche zu werfen und mit seinen besten Freunden zu tanzen (das aufregend süchtig machende, treffend benannte „Club Classics“). Hyperpop, XCXs bester und endgültiger Stil, durchdringt einige der Tracks hier, besonders die hochgestimmte Verzerrung und die Attitüde von „Von Dutch“ („It’s ok to admit that you’re jealous of me…it’s obvious I’m your number 1“) und „Everything is Romantic“, mit seinem pulsierenden Bass. „Mean Girls“ kanalisiert Noughties-Dance wie David Guetta oder DJ Mehdi und bricht unerwartet in Piano-Loops aus. Die glitzernde Synthie-Melodie und der verzerrte Bass von „Girl so Confusing“ wirken wie ein erhabener, zuckriger Cocktail in musikalischer Form. Der letzte Track, „365“, ein Remix des Openers des Albums, schließt den Kreis, wie der Titel schon andeutet, indem er hektische, chaotische Schichten von Verzerrungen in den Beats und im Gesang hinzufügt, die irgendwie das Gefühl von „3 Uhr morgens – dumm, betrunken und auf der Straße verschüttet“ akuter als jeder andere Song da draußen vermitteln. „Brat“ zeigt einige der besten Floorfiller von XCXs Karriere, aber wie bei allen epischen Nächten gibt es auch dunkle und tiefgründige Momente. XCX scheut sich nicht, uns in die dunkleren Bereiche unseres Bewusstseins zu entführen und uns von der Tanzfläche in die Toiletten und auf die Straße für eine Zigarettenpause und eine Runde Bitch-Talk zu entführen.
„Brat“ ist, wie der Titel schon sagt, verletzlich, nachdenklich und realistisch und scheut sich nicht, das Unangenehme auszusprechen. Während „Crash“ von Lust und Besessenheit handelte, geht es in „Brat“ vor allem um XCX‘ Beziehungen zu anderen Frauen und deren Unsicherheiten und Widersprüche, die in einer Nacht übermäßig präsent sein können. Wer die Inspiration für „Sympathy is a Knife“ sein könnte, wird Deuxmoi und Freunde noch eine Weile beschäftigen („Don’t wanna see her backstage at my boyfriend’s show fingers crossed behind my back I hope they break up quick“). „Girl so Confusing“ drückt die widersprüchlichen Gefühle weiblicher Freundschaften so einfach und tiefgründig aus, wie es vielleicht noch nie ausgedrückt wurde: “I don’t know if you like me, sometimes I think you might hate me, sometimes I think I might hate you”.
Die bewegendsten Momente des Albums kommen jedoch in ruhiger Form. Genau wie beim Dance als Genre, bringt eine sehr epische Nacht diese tiefgreifenden Erkenntnisse. In „I Think About It all the Time“ konfrontiert XCX das uralte Dilemma der Frau in den Dreißigern, die sich eine Karriere und Kinder wünscht, aber mit einer XCX-typischen Realitätsnähe über Neid und Missgunst: “She’s a radiant mother and he’s a beautiful father, and now they both know these things that I don’t.” Am ergreifendsten ist „So I“, XCXs Hommage an ihre ehemalige Kollaborateurin SOPHIE, die 2021 verstarb und mit der sie 2016 ihren kultigen Track „Vroom Vroom“ produzierte. XCX reflektiert über die Barrieren, die sie damals errichtet hat, eingeschüchtert von der Charakterstärke der anderen Frau, und über ihr anhaltendes Gefühl des Verlusts. Der Geist von SOPHIE ist auf „Brat“ so präsent, von den schweren Hyperpop-Tönen, die alle Tracks färben, bis hin zu der Zeile „I wanna dance to Sophie“ auf „Club Classics“, dass es sich nicht als Übertreibung anfühlt, „Brat“ als Ganzes als eine Hommage an sie zu lesen. Auf „So I“ sehnt sie sich danach, SOPHIEs Stimme noch einmal zu hören: “Things you’d suggest – ‘make it faster!’ would you like this one?” XCX braucht nicht zu zweifeln. Zweifellos würde sie das tun. „Brat“ ist Charli XCX auf dem Höhepunkt ihres Könnens, in Erwartung des großen Erfolges und der Anerkennung, die ihr schon immer zustanden. In einer Branche, die manchmal Konformität und Homogenität zu belohnen scheint, ist es aufregend, das zu erleben.
Der Beitrag wurde aus dem Englischen übersetzt, das Original könnt ihr hier lesen.