Berlinale 2019: Amazing Aretha

1971, auf dem Höhepunkt ihrer Karriere, kam die Queen of Soul Aretha Franklin nach Kalifornien, um gemeinsam mit ihrem Produzenten Jerry Wexler ein Gospel Album aufzunehmen. Für Aretha Franklin, Tochter des Baptistenpredigers Clarence LaVaughn Franklin, bedeutete dies die Rückkehr zur Musik ihrer Jugend. Um diesen besonderen Moment so authentisch wie möglich einzufangen entschied man sich, die Aufnahmen live vor Publikum stattfinden zu lassen.

Entstanden sind sie im Januar 1972 gemeinsam mit Reverend James Cleveland, einem der berühmtesten damaligen Vertreter der Gospel Musik und mit Unterstützung des Southern Californian Community Choir in der New Temple Missionary Church in Los Angeles. Das Album „Amazing Grace“ wurde zum meist verkauften Gospel Album aller Zeiten. Weniger bekannt war lange Zeit hingegen, dass Warner Brothers die Live-Aufnahmen von Starregisseur Sydney Pollack filmisch begleiten ließ und plante, gemeinsam mit dem Album einen Konzertfilm herauszubringen. Aufgrund einer Reihe unglücklicher Umstände und technischer Probleme kam es damals aber nicht zur Veröffentlichung des Bildmaterials. So war es zum Beispiel nicht möglich, die Bild- und Tonaufnahmen synchron zum schneiden, weil es bei den Aufnahmen keine Klappen gegeben hatte, die im Nachhinein im Schnitt die Synchronisation von SBild und Ton ermöglichten. Hinzu kam, dass die Tonaufnahme ein klein wenig langsamer lief als das Bildmaterial. Im September 1972 entschied man sich deshalb offiziell, die Arbeiten an dem Film zu beenden und die Auswertung der gedrehten Bilder nicht weiter zu verfolgen.

Obwohl Sydney Pollack sich bezüglich des Materials im Jahr 1998 noch einmal persönlich an Aretha Franklin wandte, blieb es 40 Jahre lang unveröffentlicht in den Archiven von Warner Brothers. 2008 nahm sich Filmproduzent Alan Elliott auf Drängen von Jerry Wexler des Materials an, und mithilfe der digitalen Technik gelang es ihm, den Film zu schneiden, der bereits im Jahr 2011 Premiere hätte haben sollen. Aber Aretha Franklin selbst klagte gegen die Veröffentlichung. Auch eine Premiere im Rahmen des Toronto Film Festival im Jahr 2015 ließ sie verhindern. Dabei betonte die Sängerin damals, es läge nicht daran, dass sie den Film nicht mögen würde, sondern deutete etwas von juristischen Problemen an, die sie zu Lebzeiten jedoch nie weiter elaborierte.

Es wäre auch schwer nachzuvollziehen, welche künstlerischen Einwände Aretha Franklin gegen die Veröffentlichung von „Amazing Grace“ hätte haben können. Die Aufnahmen sind ein faszinierendes Zeitdokument und das Zeugnis einer Darbietung schier unglaublicher Intensität und musikalischen Könnens. Die mitreißende Stimmung überträgt sich derart mühelos über die Leinwand, dass man direkt aus dem Kinosessel auf die Knie sinken und den Herrn preisen möchte. Die tiefe Bedeutung dieser spirituellen Musik und ihre überragende musikalische Qualität hat sich selten so erschlossen wie hier. Aretha Franklin wirkt in ihrer Schweigsamkeit (erst am Ende des Films spricht sie kurz zum Publikum) zurückhaltend, fast schüchtern, umso stärker scheint sich in ihr etwas zu öffnen, wenn sie hinter der Kanzel steht und singt. In ihren fließenden Roben wirkt sie fast wie eine Priesterin – man kann sich mühelos vorstellen, dass sie mit höheren Mächten in Verbindung steht.

Ihr Gesang scheint überirdisch, selbst ihr Schweiß glitzert ungewöhnlich schön im Scheinwerferlicht. Überhaupt erscheint hier jeder einzelne übermäßig charismatisch. Reverend John Cleveland, wie er charmante Witzchen mit dem Publikum reißt, Aretha Franklin mit einem Tuch den Schweiß abtupft oder hinter ihrem Rücken ihre Hand hält, während ihre Stimme sich in schwindelerregende Höhen schraubt. Der Southern Californian Community Choir, der in seinen schwarzen Hemden und silberne Westen lässig hinter Aretha Franklin sitzt. Sie müssen noch nicht einmal stehen, um ihre Stimmen erklingen zu lassen, aber es gibt Momente, da hält sie nichts auf ihren Stühlen. Chorleiter Alexander Hamilton leitet sie mit vollem Körpereinsatz und ebenfalls großem Charisma. Aretha Franklins Vater Clarence LaVaughn Franklin wirkt in seinem taubenblauen Anzug und dem akkuraten Oberlippenbärtchen wie ein Popstar, als er den Mittelgang entlang kommt. Selbst jeder einzelne im Publikum hat hier den Swag im kleinen Finger. Und der weiße junge Mann mit den langen Haaren, der so ekstatisch tanzt – ist das etwa Mick Jagger?

Es ist ein pures Fest, dass wir diese Aufnahmen 40 Jahre später doch noch sehen dürfen. Bleibt zu hoffen, dass Aretha Franklin inzwischen ihren Frieden damit gefunden hat. Wenn es irgendwo einen Ort gibt, an dem die höheren Mächte sich treffen, dann hat man nach diesem Film das Bild vor Augen, dass sie dort ganz weit vorne mitspielt.

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