Aurora im Interview: „Um Vergebung zu bitten, nur weil man geboren wurde, ist völlig absurd“

Aurora und ich sind uns erstmals Ende 2019 beim Pitchfork Festival in Paris begegnet, und ich habe sie direkt ins Herz geschlossen. Die Norwegische Singer-Songwriterin hat eine nahezu elfenhafte Ausstrahlung, ein bisschen so, als würde sie nicht laufen, sondern ein paar Zentimeter über dem Boden schweben. Gleichzeitig wirkt sie, so widersprüchlich das klingen mag, erstaunlich geerdet, vor allem wenn man bedenkt, dass sie eine große, sehr hingebungsvolle Fanbase hat, die sich wie sie kleidet, Bilder von ihr malt und von überall her zu ihren Shows anreist. Als wir uns in Paris zum Interview hinsetzten, legte sie die nackten Füße auf die Lehne ihres Sessels und wir fingen sofort an, wie alte Freundinnen miteinander zu kichern. Vielleicht hatte ich sie auch auf so Anhieb gern, weil sie felsenfest darauf bestand, dass ich unmöglich älter als dreißig sein könnte – in meinem Alter ist man so leicht zu kriegen. Ganz sicher war es die Art, wie sie sich vorbeugte und vertrauensvoll die Hand auf mein Knie legte, wenn sie etwas betonen wollte, das ihr besonders wichtig war. 

Ein Teil von mir wurde ihr gegenüber ganz mütterlich. Sie war lustig, lebendig und voller Energie, aber sie erzählte mir auch, wie erschöpft sie war, dass ihr ganzer Körper davon weh tat, jeden Abend auf der Bühne zu tanzen und ständig unterwegs zu sein. Für 2020 war ihr Plan, im Sommer eine Hand voll Festivals zu spielen und sonst eine Pause zu machen um sich erholen und wieder kreativ zu werden. Als die Pandemie anfing, musste ich tatsächlich an sie denken – wenigstens eine Künstlerin, deren Pläne nicht komplett von Corona zerstört wurden. „Oh mein Gott, vielleicht habe ich Covid passieren lassen!“ ruft sie aus, als wir uns zwei Jahre später über Zoom wieder treffen. „Weil ich das Universum so dringend um eine Pause gebeten habe…“ 

Die Pause, die sie sich gewünscht hat, hat sie definitiv bekommen, und es wirkt, als hätte sie sie in vollen Zügen genossen. Jetzt ist sie zurück mit einem 15 Song starken Konzeptalbum namens „The Gods We Can Touch“, auf dem sie jeden Song einer Griechischen Gottheit widmet. Es gibt so Vieles, das ihr wichtig ist und wofür sie sich interessiert, sie liebt Mythologie genauso wie Wissenschaft und Fortschritt, und sie macht sich große Sorgen um unseren Planeten. Wir haben nur 20 Minuten miteinander, also versuchen wir so schnell und so intensiv wie möglich in die Themen einzutauchen, die sie beschäftigt haben, als sie an dem Album gearbeitet hat (auch wenn sie sich weigert, es „Arbeit“ zu nennen): Religion und Liebe, Lust und Scham und der Teufel namens Perfektionismus.

Du siehst toll aus! Und erholt. Ich hoffe, du machst das Beste aus dieser Zeit.

Ja, das tue ich! Danke Dir! 

Und du warst kreativ!

Ja, das war ich! Das war das beste Geschenk, das mir gegeben wurde, dass ich die Zeit hatte im Studio zu sein und die Welt da draußen zu vergessen, die Arbeit zu vergessen. Denn ein Album zu machen ist keine Arbeit, das ist einfach nur pure Freude. Es war wundervoll! Und ich glaube, man kann die Freude auf dem Album hören. Es ist sehr verspielt, es ist ein großes Durcheinander. Es war wunderschön.

Hat dir die Auszeit auch neue Inspirationen geliefert? Auf die Idee, ein Album über Griechische Gottheiten zu machen, muss man erst einmal kommen… 

Nun, ich denke nicht zu viel nach. Ich existiere einfach. Wenn ich nichts zu sagen habe, schreibe ich nicht, dann mache ich etwas anderes. Wenn man sich entspannt, kommen die Ideen. Den Albumtitel wusste ich bereits 2020. Das war der Punkt an dem ich wusste, das ist es was ich machen möchte, was für ein Album es werden sollte und wie es klingen sollte. Bei jedem Album, das ich mache, ist das erste, das ich habe der Titel. Danach schreibe ich alle Songs, die zu der Geschichte passen, die ich erzählen möchte. Aber ja, ich hatte viel Zeit nachzudenken. Ich liebe es zu lesen, neue Dinge kennenzulernen. Ich bin von sehr vielen Dingen fasziniert. Eines Tages habe ich festgestellt, dass ich sehr fasziniert bin von Religion, von den verschiedenen Religionen, die es auf der Welt gibt, von dem Guten an ihnen und dem Schlechten. Wie sie unser Verhalten beeinflussen und unser Urteilsvermögen. Aber auch Liebe und Glaube – es ist so pur und gleichzeitig wieder nicht, das fasziniert mich. Und dann habe ich zurück gedacht bis zur Griechischen Mythologie und noch weit darüber hinaus, vor vielen Jahrhunderten, als wir wahrscheinlich nur die Sonne und die Erde angebetet haben. Und es sieht so aus, als hätten wir mit der Zeit viel gelernt, uns verändert und als Spezies weiterentwickelt. Aber wir haben auf dem Weg auch Vieles vergessen. Ich fühle mich dem, woran wir vor vielen Jahrhunderten geglaubt haben, sehr verbunden. Und ich wollte ein Album machen, das diese Denkweise in unsere Zeit überträgt. 

Mir gefällt die Idee, Gott und Religion als etwas zu sehen, das greifbar ist, das man anfassen kann. Ich bin in Bayern auf dem Land aufgewachsen, eine sehr katholische Gegend. Diese Art von Glauben hat sich für mich immer sehr weit von der Realität entfernt angefühlt.

So weit entfernt! So weit entfernt von uns, von der Menschheit. Ich mag die Idee, dass wir etwas anbeten könnten, an etwas glauben und etwas blind lieben könnten, das in uns allen existiert und in der Erde. Dass unter uns, im Erdboden, nicht die Hölle wartet, sondern nur noch mehr Schönheit. Dass das Pure von hier kommt, nicht irgendwo anders her. Ich glaube das würde sehr viel daran verändern, wie wir über uns und andere denken. Und über die Welt! Vielleicht wären wir nicht so nah dran unseren Planeten zu ruinieren, wenn wir Gott nicht so weit von ihm entfernt hätten. Gott existiert in der Erde, in den Bäumen und in den Bergen, hier bei uns. Ich finde diese Art zu denken und dieses Konzept sehr inspirierend. 

Das ist es! Und da wir über Realitätsferne sprechen – findest du das Zölibat nicht auch komplett verrückt? Wie kann man von jemandem Rat und Beistand im Leben erwarten, dem körperlicher Kontakt verwehrt ist?

Das fasziniert mich auch sehr. Auf diesem Album spielt das eine große Rolle. Ich möchte, dass wir uns nicht schämen und dass wir keine Scham auf diese Welt bringen oder irgendwo in die Nähe unserer Körper. Es könnte so einfach und so gut sein. Es könnte ganz natürlich sein. Liebe und Körperlichkeit, das ist doch so ein Geschenk! Es ist einfach nur wunderschön. Es ist so traurig, etwas so Schönes zu einer Sünde machen, das widerspricht mir extrem. Auf diesem Album geht es sehr viel darum, diese Seiten von uns anzunehmen, sie zu lieben und ihre Schönheit zu sehen. Ohne Scham! 

Die Vorstellung, dass wir in Sünde geboren sein sollten! Jeder, der nur einmal ein neugeborenes Baby im Arm gehalten hat sollte eigentlich wissen, wie absurd das ist. 

Ja. Ich denke es ist tief in uns verwurzelt, dass das, was uns menschlich macht, die Sünde ist und wir uns von dem Menschen in uns distanzieren müssen, um uns einem perfekten Gott anzunähern, ohne dass wir je so perfekt werden können. Denn wir sind nicht dafür gemacht, perfekt zu sein. Und ich finde unsere Obsession mit Perfektion sehr verstörend. Das ist doch nicht echt! Nichts ist perfekt. Und wir sollten auch nicht glauben, dass wir es sein müssen und uns die Schuld dafür geben, dass wir nicht perfekt sind. „Perfekt“ ist nur ein leeres Wort, das für mich überhaupt keine Bedeutung hat. Um Vergebung zu bitten, nur weil man geboren wurde, ist völlig absurd. Es ist klar, dass wir etwas brauchen. Wir brauchen Vertrauen, wir brauchen Antworten auf all diese unmöglichen Fragen. Einen Sinn in unserem täglichen Kampf zu sehen, damit er nicht umsonst ist. Aber ich glaube, wir könnten diesen Sinn auch finden, ohne dass wir uns selbst fertig machen und dass wir uns gegenseitig fertig machen. Es wäre auf jeden Fall schön.

Ich liebe es, wie du all diese tiefen Gedanken genommen und sie in Popmusik verwandelt hast – die ja angeblich etwas total Banales ist. Ich liebe wie eingängig das Album ist, wie tanzbar, wie du selbst sagst „ein großes Durcheinander“. Wie bist du das Ganze musikalisch angegangen – hast du einfach los gelassen und geguckt was auch immer dabei raus kommt?

Ja, ich habe losgelassen und geguckt was auch immer dabei raus kommt (lacht). Ich habe das gemacht, was sich gut angefühlt und Spaß gemacht hat. Und ich habe nicht zu viel nachgedacht. Ich habe nicht zu viel analysiert. Obwohl ich festgestellt habe, dass meinem Hirn das gar nicht so gefällt. Meinem Körper gefällt das, also habe ich lieber auf meinen Körper gehört. Ich war sehr verspielt auf diesem Album, was gut ist. Ich finde, wir sollten viel verspielter sein. Wir leben hier nur einmal, ein Leben lang, wenn wir Glück haben. Und wir werden mit einem Körper geboren, den man uns beibringt zu hassen. Dabei ist da so viel an uns, das man lieben kann. Wir sind nur für einen Moment hier, und wir müssen unsere Existenz nicht damit rechtfertigen, dass wir um Vergebung betteln, dass wir immer besser werden, ständig produktiv oder schön sind. Wir müssen unsere Existenz einfach niemals rechtfertigen! Wir müssen einfach nur existieren und unser Bestes geben. Und ich glaube, der Druck auf uns in dieser Welt ist zu groß. Im Prinzip ist es ganz einfach – überlebe und hab Spaß dabei!

Aber wenn wir schon über Perfektion reden – ist Perfektionismus etwas, womit du als Künstlerin zu kämpfen hast?

Ich bin natürlich auch Sklave meines eigenen Strebens nach Perfektion. Aber meine Vorstellung von perfekt ist nicht perfekt. Ich möchte einfach nur, dass jeder Song möglichst genauso klingt, wie ich ihn in meinem Kopf höre. Ich bin perfektionistisch, aber es ist mir egal ob das, was ich mache, anderen gefällt. Mir ist nur wichtig, dass es mir gefällt und so ist, wie ich es mir vorstelle. Ich mache nichts für irgendjemanden, ich mache Musik, weil es mir Spaß macht. Es ist meine Musik, und das einzige Konzept sollte sein, dass sie von mir kommt und dass sie aus meiner Sicht ehrlich ist. Denn wenn sie einfach nur perfekt sein soll, dann kann sie auch jemand anders machen. Ich mache meine Kunst, und deshalb ist sie allein meine, genauso wie deine Kunst deine sein sollte und nicht die von irgendjemand anderem. Ich schreibe also, und ich denke niemals über Druck nach. Ich weiß, dass er da ist, ich spüre ihn in meinem Team, aber mir ist egal was passiert. Weil ich weiß, dass sowieso alles gut wird, egal was passiert, egal ob ich für den Rest meines Lebens Künstlerin bin oder nur eine zeitlang. Wir können diese Dinge sowieso nicht kontrollieren. Also möchte ich das machen was ich mag, was mir Spaß macht. Darum geht es, mehr muss es gar nicht sein.

Es geht um Ehrlichkeit, oder? Ich glaube das ist es, warum Menschen sich wahren Künstler*innen verbunden fühlen, in einer Welt, in der man nur einen Algorithmus braucht, um den „perfekten“ Song zu schreiben. Ist das nicht verrückt?

Es ist verrückt. Das ist ja schon wieder ein neues Thema. Auch, dass wir unser Leben gerne durch Dinge definieren, die man mit Zahlen messen kann. Wie unser Glück oder unsere Follower oder unser Gewicht oder unsere Größe. Es ist verrückt, wieviel Macht diese Zahlen über unser Leben haben, wenn sie doch eigentlich gar nichts bedeuten. In diese Richtung werde ich auf meinem nächsten Album gehen. Mein fünftes Album… oder mein viertes… ist das hier mein drittes? (lacht) Nun, mein nächstes Album wird davon inspiriert sein. Und dieses Album jetzt ist quasi eine Brücke dorthin. Es geht darum, uns an das zu erinnern was wir wert sind, an die Macht, die wir haben. Liebe… und außerdem geht es um die kleinen, einfachen Dinge. Es hat nichts mit unserem Erfolg zu tun, mit unseren Telefonen, noch nicht einmal mit Gott. Es geht nur um dich und mich, hier und jetzt. Wir fliegen auf einem großen Stein durch das Weltall, was hat es also für eine Bedeutung, ob ich heute einen Pickel am Kinn habe? Wen interessiert das? Es geht darum, gleichzeitig ganz groß und ganz klein zu denken (lacht). 

Foto © Isak Okkenhaug