Ableistische Stereotype und toxisches Retter*innen-Narrativ: Über Sias Regiedebüt „Music“

Ein Gastbeitrag von Annalisa Weyel.

„Music“, das Spielfilmdebüt der Sängerin Sia, beginnt mit einer bunten und bewegten Tanzszene. Wir sehen das Mädchen Music, gespielt von Maddie Ziegler, inmitten von blinkenden Lichtern, wechselnden Farben und abstrakten Formen. Durch die Körpersprache, Gesichtsausdrücke und Ausdrucksweisen soll dargestellt werden, was vielleicht nicht für alle offensichtlich erscheint: Music ist eine non-verbale Autistin. Sie lebt bei ihrer Großmutter Millie, gespielt von Mary Kay Place, welche Musics Gewohnheiten und Abläufe genau kennt und sich um sie sorgt. Millie verstirbt allerdings relativ am Beginn des Films und kurz darauf wird Musics Halbschwester eingeführt: Kazu, kurz Zu, gespielt von Kate Hudson. Sie ist erst auf Bewährung aus dem Gefängnis entlassen worden und muss sich nun um Music kümmern und sich an ihre Gewohnheiten und Abläufe gewöhnen. Dabei lernt Zu auch den Nachbarn Ebo, gespielt von Leslie Odom Jr., kennen und zwischen den beiden entwickelt sich mit der Zeit eine Liebesgeschichte.

Auf den ersten Blick scheint der Film weder problematisch noch kontrovers. Doch bei genauerem Hinschauen sieht man, wie Stereotype und ableistischen Strukturen reproduziert und verfestigt werden. Zuallererst das Offensichtliche: Music ist Autistin. Maddie Ziegler nicht. Ihre Performance ist also genau das: eine Performance. Nicht mehr. Und trotzdem spielt sie die Rolle des autistischen Mädchens Music, rollt mit den Augen, beißt ihre Zähne über die Unterlippe und bewegt sich schnell und abgehakt. Klar, manche Autist*innen tun einige oder all diese Dinge. All das passiert bei ihnen aber aus sich selbst heraus, weshalb es logischerweise vollkommen natürlich ist. Problematisch wird es erst, wenn es nachgemacht und performt wird.

Denn wie spielt man eigentlich Autismus? Und ist es able-bodied Personen überhaupt möglich, Autismus zu spielen? Ist es able-bodied Personen überhaupt möglich, irgendeine Behinderung zu spielen? Dies kann eigentlich nur durch stereotypische Nachahmungen geschehen. Nachahmungen, welchen viele Menschen mit Behinderungen von klein auf ausgesetzt sind. Und diese Nachahmungen sind oftmals nicht nur unnatürlich, sondern auch sehr verletzend gegenüber der betroffenen Community.

Und genau in diesem Punkt liegt die Problematik, die sich durch den ganzen Film zieht und von Anfang an ein ungutes Gefühl verursacht. Und es geht weiter. Denn auch, wenn der Name des Films vermuten lässt, dass Music die Hauptrolle spielt und im Fokus der Geschichte steht, so wird doch spätestens ab der Einführung von Zu ein anderes Bild gezeichnet. Es geht dann plötzlich doch nicht darum, wie Music die Welt sieht, wie sie sich fühlt oder welche Beziehungen sie zu anderen Menschen hat, sondern vielmehr um die Entwicklung ihrer Halbschwester. Über Music erfahren wir in den ersten Minuten, dass sie eine Routine in ihrem Alltag braucht, Hunde liebt, bunte Träume hat und sympathisch und liebenswert ist. Und dann, bevor wir mehr über sie erfahren dürfen, wird Music mehr und mehr zu einem Nebencharakter.

Es wird viel mehr über sie geredet und über ihren Kopf hinweg entschieden, als dass Music wirklich selbst zu Wort kommen darf. Denn Musics Halbschwester Zu hat Probleme und diese Probleme gilt es über den Film zu lösen. Ihre Alkoholsucht, ihre Arbeitslosigkeit, ihre Kriminalität und ihre Unzuverlässigkeit. Was in Music vorgeht, wird zwar durch die sich wiederholenden Tanzszenen angedeutet, aber an keiner Stelle tiefgründig beleuchtet. Musics Tanzbewegungen scheinen interessanter zu sein als das, was wirklich in ihrem Inneren vorgeht. So zeichnet sich eine inakkurate Darstellung eines non-verbalen autistischen Mädchens, die Autist*innen als zweidimensionale Menschen zeigt, welche unfähig sind, komplexe Emotionen zu fühlen. „I keep messing up“ sagt Zu und bezieht damit alle Problematiken, die mit der Behinderung ihrer Schwester einhergehen, auf sich selbst. Zus Hauptaufgabe wird nun, richtig mit ihrer Schwester umzugehen. Der Fokus liegt also auf der Charakterentwicklung Zus durch die Beschäftigung mit ihrer Schwester Music und nicht etwa auf der Charakterentwicklung von Music selbst. Denn wie das dargestellt hätte werden sollen, konnten sich die able-bodied Produzent*innen und Darsteller*innen des Films wohl nicht vorstellen.

Auch Ebo, der sich Anfangs als Freund von Music zeigt und sie sehr gut kennt, wendet sich mit der Zeit immer mehr Zu zu. Es wird eine Liebesgeschichte um Ebo und Zu gezeichnet und Music ist einfach immer nur dabei. Beispielsweise, als Ebo Zu erklärt, was Autismus ist und welche „special needs“ Music hat, während Music einfach nur hinter ihnen herläuft. Hierbei ist auch anzumerken, dass man die Bezeichnung „special needs“ nicht gebrauchen sollte, da die Bedürfnisse und Fähigkeiten von Menschen mit Behinderung nicht besonders, sondern genau so normal, wie die nicht-behinderter Personen sind. Über die zweite Hälfte des Films wird die Liebe von Zu und Ebo, also der able-bodied Personen, ausgeschmückt und gefeiert. Music selbst wird dabei eher beiseite gelassen, ihre persönliche Geschichte ist anscheinend nicht so interessant. Doch warum ist Music nicht selbst Teil einer Liebesgeschichte? Ist es so schwer vorstellbar, dass Autist*innen auch lieben und Liebesbeziehungen haben? Dass Liebe nicht nur able-bodied Personen vorbehalten ist? Liebe und Liebesbeziehungen im Bezug auf Menschen mit Behinderungen sind ein großes Tabuthema und der Film hätte hier eine Chance gehabt, dieses Tabu zu brechen. Diese Chance har er allerdings, so wie viele andere auch, weit verfehlt.

Musics Behinderung scheint eine Chance für die Halbschwester auf eine positive Charakterentwicklung darzustellen. „She helps me and I love her“, sagt Zu und somit wird der Fokus wieder auf Zu gelegt. Music ist nur da, um ihr zu helfen, und das auch noch unbewusst, denn richtige Gedanken und Gefühle kann Music anscheinend nicht haben. Music wird zwar als sympathisches, aber eben auch als belastendes und kompliziertes Kind dargestellt, das Zu dazu ermutigt ihre Probleme anzugehen und als Person zu wachsen. Music wird so also benutzt, um ein toxisches Retter*innen Narrativ zu reproduzieren, welches im Bezug auf Menschen mit Behinderungen oft benutzt wird: Music rettet Zu und Zu rettet Music.
Zu sagt: „I’ve been through hell“ und legt damit den Fokus auf die Hürden, die sie in ihrem Leben überwinden musste. Doch was ist mit den zahlreichen Hürden, die Autist*innen und Menschen mit Behinderungen allgemein in ihrem Alltag überwinden müssen? Was ist mit der strukturellen Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen? Und warum ist Music die einzige Person mit Behinderung? All diese unglaublich wichtigen Themen werden nicht ein einziges Mal angesprochen.
Am Ende des Films bekommt Music von Ebo einen Hund. Sie freut sich unglaublich darüber. Soll das die Storyline sein? Ein autistisches Mädchen liebt Hunde, hilft ihrer Schwester zu sich selbst und zu ihrer großen Liebe zu finden und bekommt dafür einen Hund?

So bleiben am Ende die Fragen: Was lernen wir über Music, außer dass sie Autistin ist und Hunde liebt? Ist Music nur ein „token-character“, um einen weiteren vermeintlich inklusiven Film zu zeigen, der allerdings wieder nur ableistische Stereotype reproduziert? Wird ihr keine eigene Charakterentwicklung oder Liebesgeschichte zugetraut? Und warum wurde kein autistisches Mädchen gecastet? Genügend Schauspielerinnen hätte es definitiv gegeben. Sia hatte mit „Music“ eine Möglichkeit, Autismus zu normalisieren. Die Welt daran zu erinnern, wie normal und wie schön Autist*innen sind. Doch sie hat Stereotype reproduziert und non-verbalen Autismus in einer sehr veralteten Art und Weise dargestellt.

„Nothing about us without us“ – ein Satz, der im Hinblick auf die Darstellung von Menschen mit Behinderungen im Film unglaublich wichtig ist. Doch diese Wichtigkeit wird oft einfach nicht anerkannt. Zu sehr sind die ableistischen Strukturen in unserer Gesellschaft verankert und zu wenig Aufklärungsarbeit wird im Hinblick darauf geleistet. Und „Music“ zeigt, dass es noch ein langer Weg ist, bis Ableismus auf allen Ebenen erkannt und bewusst dagegen angegangen wird.

Annalisa Weyel ist 20 Jahre alt. Sie ist CODA (Child of Deaf Adults) und so mit der Gebärdensprache als Erstsprache und in der Gehörlosenkultur aufgewachsen. Von klein auf wurde sie für die Barrieren und strukturellen Diskriminierungsformen sensibilisiert, denen Menschen mit Behinderungen in ihrem Alltag immer wieder ausgesetzt sind. Nach dem Abitur entschied sie sich deshalb, sich bewusst und öffentlich gegen Ableismus einzusetzen. Über ihren Instagram Account wie auch durch Workshops klärt sie über die Gebärdensprache, die Gehörlosenkultur und Ableismus im Allgemeinen auf und versucht, immer mehr Menschen auf diese Themen aufmerksam zu machen.