Gesehen: „Air – Der große Wurf“ von Ben Affleck

Was macht heutzutage einen guten Film aus? Der Film „Air – Der große Wurf“ gibt uns, überspitzt gesagt, eine simple Antwort darauf: Man nimmt ein legendäres Ereignis der Zeitgeschichte, schreibt ein Drehbuch in der Hoffnung, dem legendären Ereignis dialog-technisch gebührend gerecht zu werden, setzt einen Veteranen in den Regiestuhl, der dann seine berühmten Schauspielerfreund*innen engagiert, und gemeinsam kreieren sie das, was die Kritik im Nachhinein bei der Premiere auf dem SXSW-Festival in den USA als einen “wahren Slam Dunk” und “einer der besten Sportfilme aller Zeiten“ bejubeln würden. Variety berichtet sogar von einem ekstatischen Publikum, welches während des Abspanns in minutenlangem Applaus ausbrach. Ein Film über Basketball-Legende Michael Jordan und seinen ikonischen Deal mit dem Schuhhersteller Nike kommt also beim Publikum an. Ein guter Film also. Beinahe Oscar-verdächtig. Was für eine verrückte Branche. Seit eh und je steht das Gütesiegel „Movies made in Hollywood“ für aufregendes Popkorn-Kino, faszinierende Geschichten mit großen Emotionen und unvergesslichen Filmfiguren und Zitaten. Verspricht. Nicht immer aber auch verwirklicht. Meistens sogar vergeigt. Manchmal versteckt sich Hollywood auch hinter Fassaden großer Ereignisse bzw. Persönlichkeiten und verwandelt deren Mythos in ein Konzept, welches zum Steigbügelhalter für ihre Kassenschlager wird. Und genau dieses Erfolgskonzept spricht für die Euphorie und positive Stimmung rund um den Film „Air“. Die Aura von Michael Jordan, Nike und Basketballschuhen hat bis heute nicht abgenommen oder an Strahlkraft verloren. Ganz im Gegenteil. Die Air Jordan Sneakers sind in unserer Kultur unverzichtbar geworden. Mittlerweile gibt es sie in 37 verschiedenen Ausführungen, welche Michael Jordan, dank seines 1984 abgeschlossenen Exklusivvertrags mit Nike, bis heute ein passives Einkommen von rund 400 Mio. Dollar jährlich einbringen. Unabdingbares Material also für einen hochkarätig besetzten Hollywood-Film.

Der Film eröffnet im Jahr 1984 mit einer Brise Nostalgie der 80er Jahre. In einer Folge von Montagen wird der Zuschauer in die damalige Werbewelt eingesogen. Ridley Scott wird von Apple beauftragt, einen Werbespot für den Super Bowl zu drehen, Wendy’s macht die Kampagne „Where’s The Beef?“ zum nationalen Slogan und Sportstars finden sich allgegenwärtig auf Wheaties Cornflakes-Boxen oder in Fernsehwerbespots wieder. Nike hatte sich zu diesem Zeitpunkt bereits als Laufschuh-Marke etabliert, aber kein ernsthafter Basketballspieler wollte mit ihnen zusammenarbeiten. Der Umsatz ist rückläufig, und Firmengründer Phil Knight (Ben Affleck) ist bereit, die gesamte Abteilung Schuh aufzulösen. Das ruft Sunny Vaccaro (Matt Damon) auf den Plan, der bei Nike als interner Basketballexperte arbeitet und als leidenschaftlicher Zocker vorgestellt wird. Nachdem er bei einem Besuch in Las Vegas sein gesamtes Geld beim Würfelspiel verloren hat, reift in ihm die waghalsige Idee, Nike solle sein gesamtes Quartal-Million-Dollar-Budget für das Basketball-Marketing in einen einzigen Spieler, Michael Jordan, investieren, anstatt es auf mehrere weniger bekannte Spieler zu verteilen. Dabei spielt es keine Rolle, dass Jordan schon von den Schuhmarktführern Converse und Adidas umworben wird, die beide finanziell wesentlich besser dastehen als Nike. Jordan ist zweifellos ein talentierter Spieler, aber zu diesem Zeitpunkt eher eine versprechende Investition als eine werdende Ikone. Vaccaro erkennt jedoch seine Einzigartigkeit, nachdem er das Videomaterial von Jordans erstem Jahr am College-Team der University of North Carolina genauer betrachtet hat. In einem Akt von steinerner Entschlossenheit begibt er sich kurzerhand zum Elternhaus von Michael, um seine Mutter Deloris (Viola Davis) davon zu überzeugen, Nike wenigstens eine Chance zu geben. Sie willigt ein. Während das Team rund um Vaccaro beginnt eine Strategie für das Meeting mit den Jordans zu entwickeln, wird der Zuschauer in einer Reihe von wenig subtilen Montagen, begleitet von ikonischen Bildern und Hits der 80er Jahre, auf den Klimax des Filmes eingestimmt. Dieser gipfelt in einer fesselnden Präsentation, bei der Vaccaro mit einem begeisternden Monolog die Jordans überzeugt, Michaels Zukunft in Nikes Hände zu legen. Es bleibt wohl ein Geheimnis, was Vaccaro tatsächlich in diesem Raum gesagt hat, aber diese Rede – montageartig begleitet mit den Erfolgen und Rückschlägen von Jordans Karriere – fasst alles zusammen, wofür Michael Jordan für uns, seine Fans und für unzählige Menschen in Amerika steht und bis heute Generationen inspiriert.

Zusammenfassend muss man, trotz persönlichen Ressentiments gegenüber dem Film, offen konstatieren, dass es Ben Affleck mit „Air“ erneut geschafft, ein „Crowd Pleaser“ zu sein.  Wer kann denn einer typisch amerikanischen Underdog-Erfolgs-Story mit liebenswerten Charakteren, die Sprüche und Pointen am laufenden Band liefern, schon widerstehen? Er bietet uns ein Stück vom verloren geglaubten amerikanischen Traum – eine Art Cinderella-Story darüber, wie sich eine Schuhmarke, die Gefahr lief, insolvent zu werden, quasi über Nacht zur führenden Größe positionierte, und wie ein Mann – vor allem aber seine Mutter – klug genug waren, um deren Wert zu erkennen. Aus der Handlung lernen wir, dass Deloris Jordan verantwortlich ist für die Karriere, die ihr Sohn heute hat. Trotz Widerstand von Nike konnte sie eine Vereinbarung aushandeln, bei der Michael einen globalen Prozentsatz von jedem verkauften Air Jordan Schuh bekommt. Ihr haben wir auch den einprägsamsten Satz im gesamten Film zu verdanken: „Ein Schuh ist nur ein Schuh … bis mein Sohn hineintritt“.  Schauspielerin Viola Davis bringt eine große Wärme und Stärke mit, welche sie, gepaart mit viel Empathie und Klasse, subtil, aber gezielt, in der von weißen Männern dominierten Sportwelt ausspielt und den Willen und Wert des kleinen Davids gegen den großen Goliath durchdrückt. Genau wie „Moneyball“ eine Baseballgeschichte war, es aber nicht wirklich um Baseball ging, ist „Air“ ein Basketballfilm, in dem es auch nicht wirklich um Basketball geht. Es ist weder ein Michael Jordan Film, noch muss man mit Sport vertraut sein, um zu schätzen, was Affleck und seine erstklassige Besetzung leisten. Alles in allem: „Air“ ist kein Slam Dunk, aber erzielt genug Punkte, um als Gewinner vom Platz zu gehen.

„Air – Der große Wurf“ von Ben Affleck startet am 06.04.2023 in den deutschen Kinos.