Mein Schlafzimmer ist jetzt ein Kinosaal. Wenn ein Film läuft, ist die Tür grundsätzlich verschlossen. Denn es ist Berlinale. Und es herrscht immer noch Pandemie. Deswegen findet die Berlinale dieses Jahr (erst einmal) in meinem Schlafzimmer statt. In meiner Wohnung bewegen sich außer mir mein Ehemann im Homeoffice und meine zwei Kinder, von denen eines zweieinhalb Stunden am Tag in die Schule geht, das andere gar nicht. Das macht es nicht so leicht, für jeden den Space zu finden, den er oder sie für sich braucht. Nach ein wenig hin und her habe ich deshalb das Schlafzimmer annektiert. Wer hier hinein will, muss meinem strengen Blick standhalten und auf meinen Screening-Schedule Rücksicht nehmen.
So wie wir sie alle kennen und lieben, gibt es die Berlinale dieses Jahr nicht. Mit randvoll gepackten Kinos, Hollywood Stars in Pressekonferenzen und Parties, bei denen die Menschen wild durcheinander mit vollen Händen ins Fingerfood greifen (haben wir so etwas tatsächlich einmal gemacht?). Im Juni soll es eine Publikumsausgabe der Berlinale geben, aber wie die genau aussehen wird, kann noch keiner wirklich sagen. Wir werden gewiss nicht Schulter an Schulter im Kino sitzen. Und sowohl die globalen Umstände als auch die diesjährige Filmauswahl lassen nicht darauf schließen, dass die internationale Filmprominenz zu Gast sein wird. Das ist auch irgendwie in Ordnung. Nachdem die Filmbranche unmittelbar nach Ausbruch der COVID Pandemie zeitweilig zum erliegen kam, ist es ein ungemein tröstliches Gefühl zu sehen, dass überhaupt Filme realisiert wurden und jetzt gezeigt werden können. Etwas schlanker ist das Programm in diesem Jahr, und auch das ist okay. 166 Filme feiern auf dieser Berlinale Premiere, anstatt um die 400 in den vergangenen Jahren. Selbst das ist ja für jeden normal Sterblichen nicht zu schaffen.
Umso schwerer zu verstehen ist jedoch, warum das Berlinale Team sich hartnäckig dagegen sträubte, für das Publikum eine Hybrid-Version des Festivals zu kreieren. Andere Festivals haben in den vergangenen Monaten bewiesen, dass das durchaus funktionieren kann. Die Internationalen Hofer Filmtage zum Beispiel hatten im September noch die Möglichkeit, ihr Programm in den Kinos zu zeigen und machten es trotzdem online zugänglich. 17.000 Streaming-Abrufe und im Rahmen der Einlassbeschränkungen solide Ticketverkaufszahlen bewiesen, dass Streaming im Moment die große Alternative ist, dem Kino aber trotzdem so schnell nicht den Rang ablaufen wird.
Auch die diesjährige Berlinale ist in eine Publikums- und eine Online-Ausgabe unterteilt, letztere findet diese Woche statt. Allerdings ist die virtuelle Berlinale ein reines Industry-Event: nur die akkreditierte Presse und Fachbesucher*innen haben die Möglichkeit, einen Großteil der Filme online zu sehen. Sie hat etwas von einem Geisterfestival, diese Berlinale, bei der man Filme guckt, die sonst kaum einer sieht und über die man natürlich auch schreiben soll. Ich gebe zu, es ist ein bisschen schwierig, dafür die entsprechende Motivation aufzubringen, und das liegt nicht nur daran, dass ein reines Online-Festival in den eigenen vier Wänden sich mindestens genauso anstrengend anfühlt wie sonst die Hatz von Kino zu Kino und Party zu Party, aber mit weniger Spaßfaktor. Es ist ein bisschen als würde man versuchen mit jemandem zu diskutieren, der nicht richtig zuhört und nicht antwortet. Mit einer Kritik möchte man ja auch jemanden erreichen, ihn im besten Fall motivieren, den Film zu sehen. Und bis dazu die Möglichkeit besteht, ist das, was man in diesen Tagen schreibt, schon wieder ein Stück weit im Nirvana des Internets verpufft. Langer Rant, kurzer Sinn: für das Gefühl des Miteinanders, des Austausches und auch für die Lebendigkeit des Mediums Film, schlichtweg für die Möglichkeit gesehen zu werden, wäre es schöner gewesen, wenn auch Zuschauer*innen zumindest einen Teil der Filme online hätten sehen können. Dem Zustrom in die Kinos hätte das im Sommer garantiert keinen Abbruch getan.
Schon in der Kürze der letzten zwei Tage konnte ich einige sehenswerte Filme entdecken. Zum Beispiel das französische/ libanesische/ kanadische/ katarische Drama „Memory Box“ des Regie-Duos Joana Hadjithomas und Khalil Joreige. Darin geht die jugendliche Alex auf eine Reise in die Vergangenheit ihrer Mutter, anhand einer großen Kiste voller Notizbücher und Kassettenaufnahmen, die am Weihnachtsabend plötzlich per Kurier vor der Tür stehen. Maia hatte diese, als sie selbst noch ein Teenager war, für ihre Jugendfreundin Liza gestaltet und aufgenommen. Inzwischen ist Liza gestorben und die Erinnerungsstücke haben ihren Weg zurück zu ihr gefunden. Obwohl Maia es Alex verbietet, öffnet diese die Kiste und lässt die Vergangenheit, die ihre Mutter so sehr meiden möchte, lebendig werden. So entsteht die Geschichte einer Jugend zur Zeit des Bürgerkrieges im Libanon und einer großen Liebe inmitten der unmittelbaren Bedrohung durch den Krieg. Der Film zeichnet dies alles in liebevollen, teils animierten Bildern nach. Fotografien werden lebendig und verselbständigen sich zu einem eigenen Handlungsstrang. Der Soundtrack mit Hits der achtziger Jahre und die vom Schrecken des Krieges zum Teil unberührten Sehnsüchte, Träume und Nöte der jungen Menschen im Libanon schaffen ein universelles Gefühl der Verbundenheit mit den Protagonist*innen.
Anne Zohra Berrached war 2017 bei der Berlinale als einzige deutsche Regisseurin im Wettbewerb vertreten. Ihr Drama „24 Wochen“ um eine Spätabtreibung sorgte für heftige Diskussionen und zeigte mal wieder erschreckend eindrücklich, wieviel persönlicher Anfeindung man als Frau ausgesetzt ist, wenn man sich an ein derart polarisierendes Thema wagt. Mit ihrem neuen Film „Die Welt wird eine andere sein“ (Panorama) wagt sie sich auf nicht weniger brisantes Terrain. Was wie die Geschichte einer schwierigen Liebe wider alle Umstände beginnt, steigert sich zu einem Drama, das am Ende die ganze Welt betrifft. Die junge Türkin Asli verliebt sich Mitte der Neunziger in Saeed, den sie auf einer Party in ihrem Studentenwohnheim kennenlernt. Saeed kommt aus dem Libanon, weswegen Aslis Mutter ihn als Partner für ihre Tochter ablehnt und Asli die Beziehung lange geheim hält, bis die beiden schließlich doch heiraten. Aber nach der Hochzeit wird Saeed Asli zunehmend fremd. Er verschwindet für Monate und weigert sich, den Grund für seine Abwesenheit preis zu geben. Kaum zurück, reist er in die USA, um sich endlich den Traum einer Pilotenausbildung zu erfüllen. Nach einer kurzen, glücklichen gemeinsamen Zeit in den USA ist Saeed erneut verschwunden und die Welt von einer Katastrophe erschüttert. Der Film hallt schmerzhaft nach und lässt einen mit dem Gefühl zurück, dass man gerne noch gesehen hätte, wie Asli es schafft weiter mit einer Situation zu leben, deren Grauen man sich kaum ausmalen kann – und endlich nach Jahren der Selbstaufgabe zurück zu sich selbst zu finden.
Der überraschendste (und vielleicht beste?) Film bisher stammt aus Rumänien und startet im Wettbewerb. „Babardeală cu bucluc sau porno balamuc –Bad Luck Banging or Loony Porn“ von Radu Jude erzählt von einer Lehrerin, die dank eines auf einer Pornoseite geleakten privaten Sexvideos in eine kompromittierende Situation gebracht wird. Es wird eine Elternkonferenz einberufen, vor der sie sich rechtfertigen muss und die entscheiden soll, ob sie weiter an der Schule unterrichten darf. Daraus entspinnt sich eine absurde Diskussion voller Sexismus, Rassismus, Kriegsverherrlichung, Holocaust-Relativierung und persönlichen Beleidigungen. Nach anfänglicher Irritation entwickelt sich „Bad Luck Banging or Loony Porn“ zunehmend zu einem faszinierenden, hochintelligenten filmischen Experiment, das trotz seiner Skizzenhaftigkeit – und der Tatsache, dass alle Darsteller*innen Masken tragen – urkomisch, unterhaltsam und erhellend ist. Zu gerne hätte ich den Film gemeinsam mit anderen Menschen gesehen. Hätten die expliziten Sexszenen zum Anfang für einen Eklat gesorgt? Hätten viele angesichts des doch gewöhnungsbedürftigen ersten Drittels frühzeitig das Weite gesucht? Ich gebe zu, auch ich musste mich anfangs zwingen durchzuhalten. Aber wer das tut, der darf dabei zusehen, wie Radu Jude seine ausgelegten Fährten nach und nach geschickt zusammenlaufen lässt und das Ganze mit einem absurden, brüllend komischen Ende krönt.
„Das Mädchen und die Spinne“ ist der zweite Film der Schweizer Regiebrüder Ramon und Silvan Zürcher und ist in der noch frischen Sektion Encounters zu sehen. 2013 studierten die beiden noch an der DFFB und waren bereits im Forum mit ihrem Langfilmdebüt „Das merkwürdige Kätzchen“ Gast bei der Berlinale. Damals bewiesen die beiden bereits eine starke erzählerische und optische Handschrift, die sie mit „Das Mädchen und die Spinne“ nun vertiefen und weiterentwickeln. Dabei bleiben sie inmitten der vielen formalen Experimente, die man bei der Berlinale zu sehen bekommt, immer noch erstaunlich eigenständig. Wie bereits bei „Das merkwürdige Kätzchen“ wird eine Wohnung zum zentralen Erzählkosmos, der diesmal aber um weitere Schauplätze erweitert wird. Lisa zieht aus der WG mit Mara aus, Mara bleibt verletzt und grollend zurück. Während die neue Wohnung renoviert wird, gehen in der alten Dinge kaputt. Menschen treffen, verbinden und trennen sich, eine Party wird gefeiert, absurde, manchmal fast magische Begebenheiten reihen sich aneinander. Die Dialoge sind oft schwer, werden durch die Inszenierung aber weich und durchlässig. Und auch Tiere spielen wieder eine Rolle: eine entführte Katze, ein Spülschwämme klauender Hund und natürlich die titelgebende Spinne. Ein feines cineastisches Kunstwerk, berauschend wie ein Gewitter nach einem heißen Sommerabend.
Einen ersten typischen Berlinale-WTF-Moment gab es auch bereits. „The Scary of Sixty-First“, das Regiedebüt der Schauspielerin und Podcasterin Dasha Nekrasova läuft ebenfalls in der Sektion Encounters. In ihrem Podcast „Red Scare“ setzt sie sich ironisch kritisch mit Themen wie Neoliberalismus und Feminismus auseinander, ihr erster Spielfilm ist eine Hommage an die italienischen Giallo Filme der Siebziger Jahre und deshalb nichts für zart Besaitete. Das verwünschte New Yorker Apartment, in das zwei junge Frauen blauäugig einziehen, gehörte einst Jeffrey Epstein. Kaum eingezogen, taucht eine von beiden zusammen mit einer mysteriösen Unbekannten in die Welt der Verschwörungstheorien rund um Epsteins Tod ein, während die andere spürt, wie eine fremde Macht von ihr Besitz ergreift. Es sind die Opfer des verstorbenen Sexualstraftäters, die fortan durch sie sprechen. Das Ganze treibt natürlich zielstrebig auf einen blutigen Showdown zu. Respekt an Hauptdarstellerin Betsey Brown, die sich hier bis an die Grenzen des Erträglichen hin verausgabt. Die Szene, in der sie zu Bildern von Prince Andrew masturbiert, ist da nur ein Beispiel. Ob man das sehen möchte, sollte jeder selbst und sorgsam entscheiden – einen schwer löschbaren Eindruck hinterlässt „The Scary of Sixty-First“ definitiv.
Und schon geht die Tür zu meinem Schlafzimmer auch wieder zu. Bitte nicht stören, es läuft der nächste Film.