Schwarz-Weiß-Filme im 21. Jahrhundert? Zugegeben, es ist etwas ungewohnt, keine Farbe im Kino zu sehen, aber dadurch kann sich ein Film auf das Wesentliche konzentrieren – auf seine Message und einhergehend seine Tiefgründigkeit. Könnte. Was jüngst Mike Mills mit “Come On, Come On” gelungen ist, verfehlt “Wo in Paris die Sonne aufgeht” von Jacques Audiard. Leider. Denn eigentlich könnte es ein wunderbarer Film über Einsamkeit und Glück, Lieben und geliebt werden und die Suche nach sich selbst sein. Themen, die aktueller denn je sind. Denn wir alle wollen ein erfülltes Leben voller Liebe, Selbstverwirklichung und Zufriedenheit. Perfekt, um den Zuschauer genau an diesem Punkt abzuholen. Doch in all seiner Ambition, seine Botschaft zu vermitteln, verliert sich die Handlung des Films auf vielen Abschnitten. Und zeigt oft den erhobenen moralischen Zeigefinger.
„Erst vögeln, dann schauen“
Der Film versucht die Porträts von drei Frauen und einem Mann zu zeichnen, die sich auf einem kurzen Abschnitt ihrer Leben begegnen und deren Geschichten für einen Moment miteinander verwoben sind. Sie werden Freunde und Liebhaber, oft auch alles zusammen. Gesettet ist die Story in der französischen Hauptstadt Paris. Als Zuschauende lernen wir zu Beginn des Films die Franco-Chinesin Emilie (Lucie Zhang) kennen. Sie lebt in der Wohnung ihrer Großmutter im 13. Arrondissement von Paris. Die Mittzwanzigerin hat Politikwissenschaften studiert, hält sich allerdings nur mit Aushilfsjobs über Wasser. Sie weiß nicht so recht, wo sie im Leben steht und was sie will. Zu ihrer Familie hat sie kaum noch Kontakt. Gefühle zulassen fällt ihr schwer. Aber eigentlich will sie nur geliebt werden und sich nicht mehr einsam fühlen.
Auf der Suche nach einer neuen Mitbewohnerin lernt sie Camille (Makita Samba) kennen. Er wird nicht nur ihr Mitbewohner, sondern auch ihre Liebschaft – zumindest für ein paar Nächte. Denn Emilie verliebt sich in Camille, einen selbstbewussten und zielstrebigen Lehrer. Der will aber nichts Festes. Und so schnell wie er in ihrem Leben aufgetaucht war, verschwindet er zunächst auch wieder. Und Emilie ist die Leidtragende.
Die dritte Figur im Bunde ist Nora (Noémie Merlant). Nora ist Anfang 30 und will ein Jura-Studium in Paris aufnehmen. Sie ist der Inbegriff von Mauerblümchen und Frigidität. Allerdings wird ihr Leben während einer Partynacht völlig auf den Kopf gestellt: Sie wird für das Camgirl Amber Sweet (Jehnny Beth) gehalten, zu der sie später eine enge Verbindung aufbaut. Noras Zukunft liegt in Trümmern, und so muss sie ihr Studium abbrechen und wieder als Immobilienmaklerin arbeiten. Die Wege von Camille und Nora kreuzen sich in einer Immobilienfirma.
Grob zusammengefasst dreht sich in dem Film alles um Sex und Anziehungskraft. Es ist das primitive Leitmotiv, welches die Figuren miteinander verbindet. Und so lassen es sich die Filmemacher nicht nehmen, Sex unverblümt und unzensiert zu zeigen. Hier sei aber erwähnt, dass diese Aufnahmen nicht wie pornografische Szenen wirken, sondern der Sex durch die Schwarz-Weiß-Bildgebung eher etwas Ästhetisch-Sinnliches hat. Naja fast alle Aufnahmen. Die einzige farbige Szene im Film ist ein Webcam-Video der erotischen Dienstleistungen von Amber. Diese wiederum wirken primitiv pornografisch, sind für die Handlung aber leider essenziell.
Liebe in Zeiten von Social Media
Versucht man den Film als Ganzes zu betrachten, wird man nicht weit kommen. Es sind eher schnelllebige Momentaufnahmen oder besser Kurzgeschichten von vier jungen Menschen, die versuchen “moderne” zwischenmenschliche Beziehungen zu führen – mal mehr, mal weniger erfolgreich. In Zeiten von Dating-Apps wie Tinder wird der Sex unverbindlicher, Liebe distanzierter und Beziehungen rarer. Es entsteht eine unverblümte Pseudo-Leichtigkeit im Leben. Doch wie anfangs bereits gesagt, wollen wir alle doch nur Sicherheit, Beständigkeit und Liebe in unserem Leben. Vor allem Zuschauerinnen werden sich mit Emilie oder Nora leicht identifizieren, ihre Gefühle und Handlungen nachvollziehen können.
Leider zeigt der Film hier aber auch seinen Schwachpunkt: Es sind zu viele Handlungsstränge. Im ersten Drittel wird der Spannungsbogen mit der Geschichte von Emilie und Camille zwar gespannt, doch abrupt von Nora und Amber unterbrochen. Letztere Figuren nehmen weniger Raum in Hinblick auf die Gesamtstory ein, beanspruchen aber genauso viel Filmzeit – und werden nur grob gezeichnet. Ihnen fehlt es an Tiefe. Die Spannung in der Handlung und auch zwischen den Figuren verliert sich durch die Menge an Hauptcharakteren. Und dann gibt es auch noch diverse Nebenfiguren, die nur um ihrer Selbstwillen existieren und präsent sind. Sie sind da, weil ein Film Nebenfiguren braucht – aber eigentlich könnte man auf Emilies Großmutter oder Camilles Schwester verzichten. Lediglich Noras Mit-Studentin erfüllt einen offensichtlichen Zweck – zumindest in Noras Handlungsstrang.
Fazit: “Wo in Paris die Sonne aufgeht” versucht in bemerkenswerten und ästhetischen Schwarz-Weiß-Aufnahmen einen Blick auf das (Liebes-)Leben einer jungen Generation in einer schnelllebigen Welt zu werfen. Unverblümt und unzensiert gibt es Sex und nackte Körper en masse. Das Publikum wird förmlich da abgeholt, wo es bereits steht, mit was es sich gut identifizieren kann. An manchen Stellen und bei manchen Figuren gehen jedoch die Ambitionen einer Tiefgründigkeit verloren. Die Handlung selbst zieht sich. beziehungsweise verliert ihre Fäden, der Spannungsbogen wird lasch. Der Film ist gut gemeint, aber nur halb gut gemacht.