Warum „303“ von Hans Weingartner der Film ist, den ihr euch diesen Sommer ansehen solltet

Wenn man mit einer heranwachsenden Jugendlichen zusammen lebt, macht man sich unweigerlich und zunehmend Gedanken über die Art, wie junge Leute in der multimedialen Welt portraitiert werden. Vor allem wenn besagte Tochter sich vor allem für Fantasy-Literatur und -Filme interessiert, in denen die weibliche Hauptfigur meist in irgendeiner Form „bestimmt“ oder „auserwählt“ ist, wozu auch immer – in der Regel dazu sich zu retten, den Jungen den sie liebt oder gerne auch mal die ganze Welt. Da geht es schon viel um Selbstoptimierung und Coolness, denn die Welt rettet sich ja bekanntlich viel besser mit einem flotten Spruch auf den Lippen.
Was soll ich sagen, da muss man durch als Mutter. Geschmacksprägend kann man auf eine 13-Jährige wenn überhaupt dann nur subtil aus dem Hintergrund wirken. Zum Beispiel indem man sie immer mal wieder in einen Film lotst, von dem man weiß, dass sie ihn sich selber nicht aussuchen würde, der aber trotzdem (über soviel mütterlichen Instinkt verfügt man glücklicherweise dann doch) etwas in ihr bewegen wird.
Deswegen, liebe Mütter und Väter von zarten Vertretern der neuen Generation, mein Appell an euch: schnappt euch diesen Sommer eure Teenager und seht euch gemeinsam mit ihnen Hans Weingartners neuen Film „303“ an. Denn dort passiert etwas, das in der heutigen Filmlandschaft leider zunehmend zur Seltenheit wird: man trifft zwei junge Menschen, die so angenehm natürlich sind und deren Begegnung so liebevoll unaufgeregt portraitiert wird, dass man glatt den Eindruck bekommen könnte, man wäre persönlich dabei. Und dürfe ihnen über zwei Stunden hauptsächlich beim Reden zuhören, ohne dass man sich auch nur eine Minute dabei langweilt. Weil diese Menschen einen wirklich interessieren und damit auch, was sie einem zu sagen haben.
Die Geschichte ist im Prinzip schnell erzählt. Die Studentin Jule (Mala Emde) hat gerade das Semester hinter sich gebracht, als sie erfährt, dass sie schwanger ist. Ihre Mutter rät zur Abtreibung und Jule macht auch einen Termin beim Frauenarzt, um ein entsprechendes Medikament zu bekommen. Mit den Tabletten in der Tasche setzt sie sich dann aber in ihr altes Mercedes-Hymer-Wohnmobil und beschließt, die Sache erst einmal mit ihrem Freund zu besprechen, der gerade in Portugal an seiner Doktorarbeit schreibt. Auf einer Autobahnraststätte trifft sie Jan (Anton Spieker), der gerade von seiner Mitfahrgelegenheit versetzt wurde und auf dem Weg nach Spanien ist, um erstmals seinem leiblichen Vater zu begegnen. Die beiden tun sich zusammen, erst einmal ist die gemeinsame Fahrt bis Köln geplant, aber die nächsten Kilometer werden nach und nach verhandelt.
Jule und Jan fahren mit dem Wohnmobil durch Europa, und sie fangen an zu reden. Über den gängigen Smalltalk sind die beiden aber bereits nach den ersten wenigen Kilometern hinaus, dann geht es thematisch richtig in die Vollen. Ist der Mensch ein Einzelgänger oder funktioniert er in der Gemeinschaft besser? Sollten wir in Konkurrenz zu unseren Mitmenschen leben oder mit ihnen kooperieren? Liegt die Treue tatsächlich in unserem Wesen oder ist der Mensch doch etwa zur Polygamie geboren? Und kann man sich überhaupt aussuchen, in wen man sich verliebt oder ist das eine rein chemische Reaktion, der wir automatisch verfallen? Jan und Jule stellen schnell fest, dass sie unterschiedliche Standpunkte vertreten, gehen aber mehr und mehr darin auf, diese mit dem jeweils anderen zu diskutieren. Und natürlich kommen sie sich dabei näher.
Eigentlich sollte einem der Kopf schwirren bei so viel Dialog über eine Lauflänge von mehr als zwei Stunden. Dass dem nicht so ist, sondern dass man den gesamten Film über nicht aufhört sich für das zu interessieren, was Jan und Jule miteinander verhandeln, das ist zum einen den Darstellern Mala Emde und Anton Spieker zu verdanken, die herrlich unbefangen und natürlich miteinander agieren. Und natürlich, zum anderen, der unaufgeregten Regie von Hans Weingartner, der die beiden so unaufdringlich beobachtet, dass der Effekt eintritt, den Kino eigentlich haben sollte, der aber trotzdem so selten und so wunderschön ist: man vergisst völlig, dass man in einem Kinosessel sitzt und Menschen bei der Ausübung ihrer Arbeit zusieht. Man begleitet Jan und Jule bedingungslos bei ihrer Reise. Hinzu kommt, dass die Themen, die die beiden diskutieren und die Positionen, die beide dabei beziehen, schlichtweg spannend sind und vor allem (aber nicht nur) für junge Zuschauer wahre Horizontöffner sein können. Und schrecklich romantisch ist „303“ natürlich auch, inklusive der vielleicht schönsten Kussszene, die es seit langer Zeit im Kino zu sehen gab.

Neben Mala Emde und Anton Spieker spielen das charmante Mercedes-Hymer-303-Mobil und nicht zuletzt die nahezu erschreckend schöne europäische Landschaft eine wesentliche Rolle in „303“ (die komplette Route von Jule und Jan kann man hier nachvollziehen). Meine Tochter weiß auf jeden Fall schon, was sie in den nächsten Sommerferien machen möchte. Und auch wenn sie sich in diesem Moment bereits wieder hinter dem nächsten Fantasy-Action-Reißer verschanzt, weiß ich doch, dass „303“ sie auf nachhaltige Weise beeindruckt und ein klein wenig verzaubert hat. Der Erfolg, den „303“  während der diesjährigen Berlinale und der dem Start vorausgehenden Kinotour gefeiert hat, zeigt außerdem, dass es nicht nur uns so geht, sondern dass es großes Interesse gibt an klugem, inhaltsvollem Kino für junge Leute. Und schon sieht die Zukunft ein klein wenig rosiger aus. Wer also bei dem gerade herrschenden Wetter eher wenig motiviert ist ins Kino zu gehen, dem sei versichert: „303“ ist der Film, für den es sich diesen Sommer definitiv lohnt.

Kinostart: 19.07.2018

http://www.303-film.de