Dichtes Gedränge vor dem Haus Auensee in Leipzig. Ein Kampf um jeden freien Parkplatz ist im Gange, obwohl in einer Stunde erst einmal die Vorband auftritt. Nick Cave ist in der Stadt! Zusammen mit Warren Ellis, Martyn Casey und Jim Sclavunos bildet er seit 2007 die Band GRINDERMAN, die sich hauptsächlich dem derben Garagenrock verschrieben hat.
Von überall her schwirren die Leute in den riesigen Gebäudekomplex, der etwas außerhalb der Stadt liegt. Es ist auffällig, dass es bei den Besuchern kaum eine bestimmte Altersgrenze gibt. Von 18 bis 70 (!!!) ist alles vertreten, und das gibt der Musik einen selten gewordenen Charakter von Zugehörigkeit in einer großen Vielfalt.
Doch bevor die schuftenden Australier die Bühne betreten, steht ANNA CALVI auf dem Programm. Hm, ich bin nicht der Einzige, der noch nicht von ihr gehört hat. Doch ich bin froh, dass ich mir das nicht entgehen habe lassen. Was für eine Frau! Ich entdeckte ihre Vinysingle an der Wand des Merchandise-Standes zwischen Ginderman-Shirts, Grinderman-Tassen und Nick Caves Buch „Der Tod des Bunny Munro“. Ein leicht geöffneter Mund mit vollen, blutroten Lippen und ihr Name in dicken, weißen Buchstaben. Es könnte optisch glatt ein DVD-Cover eines Tarantinofilms sein! Limitiert und handsigniert für bloß sieben Euro. Ich krame aufgeregt in meinem Portemonnaie… Scheiße! Durch den letzten Parkautomat fehlen mir zwei Euro. Aber das Leben geht weiter.
Ich mache die Kamera scharf und schlängel mich durch die noch halb gefüllte Halle in die vorderste Reihe. Neben mir ein circa 70 jähriger Mann, der mehr über FastForward Magazine wissen will. Wir driften ab und diskutieren über Tony Curtis, Elvis, Lenin und natürlich auch über Nick Cave. In der Zwischenzeit hat sich der Raum auf vier Personen pro Quadratmeter gefüllt. Es verstreichen noch ein paar Minuten. dann setzt sich Anna Calvis Drummer (Daniel Maiden Wood) ans Schlagzeug und Mally Harpaz (Harmonium, Percussion) richtet ihre Instrumente ein. Dann betritt Anna die Bühne. Ja, es ist der gleiche knallrote Mund wie auf dem Cover! Über ihrer Satinbluse hängt eine abgewetzte E-Gitarre und sie beginnt mit einem Solo. Sie braucht bestimmt keinen Mann, denn ihr Spiel ist Sex. Langsam steigert sie sich vom gefühlvollen Zupfen zum ekstatischen Schmettern bis in die vierzehnte Lage. Keine 30 Sekunden vergehen, und sie hat das Publikum in ihrem Bann. Wenn Eric Clapton das sehen würde, würde er sich bestimmt vor Staunen das erste Mal verspielen.
Nur ihre Stimme toppt noch ihr Spiel. Sie ist inbrünstig und düster wie eine korpulente Operndiva aus Bayreuth im Körper einer Nelly Furtado. Schlimm wäre es umgekehrt! Mit den kräftigen Beats und dem Einsatz des Harmoniums entsteht eine Art tangolastiger Indierock. Ich wusste erst gar nicht, was ein Harmonium ist und habe mich gewundert, warum Mally Harpaz so bedeutungsvoll an der Kommode rumgezogen hat. Wäre doch eine tolle Ikeawerbung, wenn man das mit Schränken machen würde! Ich schweife schon wieder ab… Am beeindruckendsten war der Titel „Jezebel“, den einst Edith Piaf sang. Edith Piaf ist zwar unerreichbar, aber Annas Interpretation hat Feuer und Flamme wie das Original. Jedenfalls sieht Mireille Mathieu mit ihrer Synthesizerversion ziemlich alt dagegen aus. Beim donnernden Beifall blitzt am Bühnenrand kurz das Gesicht von Warren Ellis auf. Erwischt! Selbst die Männer von GRINDERMAN können sich Calvis Anziehungskraft nicht widersetzen.
Nach dem 45minütigen Umbau wird es in der Masse langsam ungeduldig und man versucht per Klatschen und Pfeifen den Vorgang zu beschleunigen. Aufgeregt überprüfen die Veranstaltungstechniker noch einmal jedes Kabel, als ob sie sich schon vor dem Wüten der Band fürchten. Mit ihren Stirnbandtaschenlampen erinnern sie irgendwie an die chilenischen Bergleute. Das Zuschauerlicht geht aus und mit großem Jubel betreten Martyn Casey (Bass), Jim Sclavunos (Drums) und Warren Ellis (all in one & more) die Bühne. Alle drei mittlerweile mit prächtigem Vollbart versehen. Schließlich lässt sich auch Nick (rasiert!) blicken und startet ohne viel Tamtam. Er drischt auf seine zerzerrte Klampfe ein, während Martyn den unerbittlichen Bass zu „Mickey Mouse And The Goodbye Man“ anschlägt.
Song für Song kochen sie sich und das Publikum auf. Wenn Warren Ellis gerade mal nicht seine E-Violine vergewaltigt oder unbändige Riffs auf seiner Kindergitarre loslässt, schlägt er mit zwei Rasseln auf ein einzelnes Becken. Ein Bild aus Rumpelstilzchen und Planet der Affen entsteht in meinem Kopf. Doch auch Nick Cave scheint einen Exorzismus nötig zu haben. Er schmeißt in seiner Unbändigkeit alle Mikrofonständer um, zieht sein Mikro quer über die Bühne. Die Bühnentechniker haben alle Hände voll zu tun, diesen Kabelfitz zu entknoten und entstandene Schäden zu beheben. Nick und Warren verkörpern mit allen Mitteln ihren wütenden, schroffen und aufwühlenden Rock. Nach knapp zwei Stunden mit Titeln wie „Evil“, „No Pussy Blues“, „Worm Tamer“ und einer knapp 20minütigen Zugabe wird es wieder ruhig in Leipzig. Danke Jungs… äh, Männer!
Bericht & Fotos: Ronny Ristok