Eine Frau wird in ihrem eigenen Haus brutal vergewaltigt. Als es vorbei ist, ruft sie nicht die Polizei, sondern fängt mit Ruhe an, die Spuren der Attacke zu beseitigen. Die Überbleibsel einer zerbrochenen Vase aufheben, die zerrissene Kleidung wegwerfen. Dann in die Badewanne gehen, den Körper von den Verletzungen des Übergriffs reinigen. Doch selbst danach ruft sie nicht die Polizei. Michèle beschließt, nahtlos zum Alltag zurückzukehren und sich von der Attacke so wenig wie möglich beeindrucken zu lassen.
So beginnt gleichermaßen Philippe Djians Roman „Oh…“ sowie Paul Verhoevens „Elle“, der Djians Stoff zu einem kongenialen Film verarbeitet hat. Die Rolle der abgeklärten Michèle, die sich weigert, sich durch den sexuellen Angriff durch einen Fremden zum Opfer machen zu lassen, sorgte bereits im Vorfeld für Gesprächsstoff. Letztendlich wurde es ein französischer Film mit der großartigen Isabelle Huppert in der Rolle der Michèle, da sich in Hollywood niemand mit der Rolle anfreunden konnte. Sowohl Philippe Djian als auch Paul Verhoeven wurde in ihrem Schaffen bereits Frauenfeindlichkeit vorgeworfen. Ausgerechnet Verhoeven verfilmt einen derart kontroversen Dijan Stoff – kann das gut gehen?
Es ist tatsächlich ein erstaunlicher Film geworden. „Elle“ verliert über seine zwei Stunden Laufzeit nicht an Spannung, schockiert mit knallhartem Realismus und irritiert zugleich mit nahezu märchenhaften Zügen. Er ist grausam und streckenweise urkomisch zugleich. Dass „Elle“ so gut funktioniert liegt an der perfekten Symbiose zwischen seiner famosen Hauptdarstellerin, die die Rolle der Michèle bis ins letzte Detail ausfüllt und dem schlichtweg genialen Plot, der ihm dank Philippe Djians Vorlage zugrunde liegt.
Dieser bleibt Verhoeven streckenweise sehr nah. Interessant ist, dass die wenigen Details, die er verändert, der Geschichte sogar noch zugute kommen. Bei Djian ist Michèle eine erfolgreiche Filmproduzentin, ihre eigene Firma hat sie zusammen mit ihrer Freundin Anna gegründet, mit der sie eine langjährige, tiefe Freundschaft verbindet. Im Film sind die beiden Freundinnen Inhaberinnen einer Firma, die erfolgreich brutale, zum Teil auch frauenverachtende Computerspiele produziert. Eine kluge, geschickte Veränderung, die dem Charakter der Michèle einen zusätzlichen Kick gibt. Es ist spannend, wie zwei elegante Frauen mittleren Alters ein Team junger Mitarbeiter und Computer Nerds führen und sich in diesem Metier erfolgreich behaupten. Auch den Handlungsstrang rund um Michèles Sohn Vincent und seine schwangere Freundin hat er leicht umgestellt. So erfahren wir im Film erst später die volle Wahrheit um Josies Schwangerschaft, während diese bei Djian von Anfang an vorgegeben ist. Im Roman wie im Film, im letzteren durch diesen dramaturgischen Kniff fast noch mehr, ist die Handlung um das junge Paar einer der Sidekicks, die die Grundstimmung der Geschichte zwischendurch in eine absurd komische Richtung lenken. Sowohl Djian als auch Verhoeven verstehen es kongenial, den Finger in die Wunden der Figuren zu legen, die sie portraitieren, ohne sie zu verraten, zu verurteilen und meist auch ohne zwanghaft zu versuchen sie überhaupt zu verstehen. Das macht auch Isabelle Hupperts Darbietung so herausragend, sie nimmt sich der Figur der Michèle kompromisslos an, ohne sich anzumaßen, den moralischen Wert ihres Charakters ergründen zu wollen.
Auf diese Weise funktionieren sowohl Roman als auch Film für den Leser, beziehungsweise Zuschauer am besten. Die Art von Beziehung, auf die Michèle sich im Lauf der Geschichte mit ihrem Peiniger einlässt, ist schmerzhaft und schwer nachvollziehbar. Hier geht Djian etwas mehr in die Tiefe, lässt weniger Interpretationsspielraum als Verhoeven, in wieweit Michèle freiwillig handelt. Das macht sie rein erzählerisch zur etwas stärkeren Figur. Was bei Verhoeven aber an Erklärungen fehlt, macht Isabelle Huppert durch ihr Spiel wett. Man glaubt einfach keinen Moment lang, in ihr das willenlose Opfer zu sehen.
Philippe Djian liefert mit „Oh…“ eine brisante, gewiss polarisierende Romanvorlage, deren Sog man sich aber nur schwer entziehen kann. Und es ist nahezu erstaunlich, wie sehr ihr Paul Verhoeven in seiner Verfilmung gerecht wird. Selbst der atemlose Rhythmus, in dem Djian erzählt, findet sich nahezu eins zu eins in „Elle“ wieder. Es ist mitunter nicht leicht, die Geschichte zu mögen, streckenweise ist es fast unangenehm, wie gut man sich unterhalten fühlt. Das macht sowohl Buch als auch Film aber zu einem ganz besonderen, bitteren Vergnügen.
Es lohnt sich auch tatsächlich, erst den Film zu sehen und sich dann dem Buch zu widmen. So kommt man in den effektvollen Einsatz von Verhoevens Schock- und Überraschungsmomenten und hat hinterher die Gelegenheit, sich dank Djian weiter in Michèles Psyche zu vertiefen. Sie ist kein leicht zu bereisender Ort, so viel sei verraten.
„Elle“ von Paul Verhoeven ist aktuell in den deutschen Kinos zu sehen.
„Oh…“ von Philippe Dijan ist im Diogenes Verlag erschienen und kann zum Beispiel hier käuflich erworben werden.
Gesehen/Gelesen von: Gabi Rudolph