von Ali Lewis
Wie bei so vielem was im letzten Jahr passiert ist, wundere ich mich, ob das hier jetzt die „neue Normalität“ ist. Wir sind ungefähr 60 Leute in einem Zoom Call, Köpfe und Schultern in leuchtenden Rechtecken, das COVID Äquivalent zum Konzertpublikum, und wir sehen dabei zu, wie Bella Latham, aka Baby Queen, aka die Zukunft des Pop, für uns akustisch zwei Songs performt. Manche Fans haben sich schick gemacht für diesen Abend, der für die meisten wahrscheinlich das gesellschaftliche Highlight der nächsten Monate ist. Andere liegen im Schlafanzug auf dem Bett. Ein Junge verdrückt im Close-Up seinen McDonalds Burger, was ein bisschen irritierend ist und in meinen Augen ehrlich gesagt auch ein bisschen respektlos gegenüber Baby Queen. Aber wer weiß, vielleicht ist das ein Generations-Ding. Sie ist nicht auf der Bühne (tatsächlich sitzt sie auf dem Boden, direkt neben der Kamera), wodurch das Gefühl entsteht, dass es hier keine Hierarchie gibt. Am Anfang sind wir alle stumm geschaltet, bis Bella, nachdem sie performt und ein bisschen mit uns gesprochen hat, das Gespräch frei gibt und alles ein bisschen durchdrehen. Auf respektvolle Weise, alle lieben Bella, aber trotzdem wird es ganz schön verrückt. Ein Fan spielt ein selbstkomponiertes Stück auf der Gitarre. Jemand fragt sie, was für Medikamente sie nimmt. Die nächste hält ihren Gecko in die Kamera, den Latham quietschend bewundert. Ein Teil der Fans ist offensichtlich regelmäßig hier, sie erkennt sie, nennt sie „Baby Kingdom“. Sie veranstaltet diese Zoom Parties regelmäßig, man bittet via Social Media um eine Einladung und bekommt per E-Mail einen Zugangscode gesendet. Die Fans kennen sich von früheren solcher Parties und aus einer WhatsApp Gruppe, die Latham ins Leben gerufen hat und wo sie ab und zu vorbeischaut, und auch da wird es jedes mal, wie ein Fan uns erklärt, „ganz schön verrückt“. Die Lautesten, allesamt Teenager, behandeln Latham wie eine enge Freundin. Andere, so wie ich, halten sich still im Hintergrund, überlassen den anderen gerne die Führung und lassen das Spektakel auf sich wirken.
Man kann sich kaum vorstellen wie hart es sein muss, in diesen Zeiten eine Karriere als Popstar zu starten, ohne eine einzige Show spielen zu können, ohne ein Licht am Ende des Tunnels in Hinblick darauf, wann Konzerte wieder möglich sein werden. Bella Latham, 23 Jahre jung, verließ ihre Heimat Südafrika und zog nach London um Popstar zu werden, und unter normalen Umständen würde sie jetzt intime Konzerte in kleineren Clubs spielen, größere Acts als Support Act auf Tour begleiten, Signierstunden geben und im Fernsehen und Radio auftreten. Aber auch für aufstrebende Stars findet das Berufsleben, wie für viele von uns, seit dem letzten Jahr ausschließlich online statt. Die Musikindustrie hat sich das auf verschiedene kreative Weise zueigen gemacht, mithilfe von Livestream Gigs, kurzen Live-Auftritten über Instagram und aufgezeichneten Video-Nachrichten. Das meiste davon ist meiner Erfahrung nach eher deprimierend und unterstreicht nur, dass Live-Musik vor allem von zwischenmenschlicher Interaktion lebt. Um ganz ehrlich zu sein: wenn ich nicht schreien, singen, Teil einer Menge sein kann und danach mit dem Schweißgeruch anderer Leute an mir nach Hause gehe, gekleidet in überteuerten Merchandise, dann möchte ich lieber gar nicht mitmachen. Klatschende Emojis in einen Chat zu tippen ist einfach nicht das Gleiche. Was Bella Latham ihren Fans bietet ist noch einmal etwas anderes, eine Möglichkeit, direkt mit ihr zu interagieren in einer Situation, die nicht von ihrem Management kontrolliert wird. Ihr Management ist offensichtlich in der Nähe und hat ein Auge auf die Situation, aber das Ganze fühlt sich an wie eine etwas außer Kontrolle geratene Zoom Party mit zu vielen Gästen, bei der die lautesten den Ton angeben.
Ich glaube einer der Gründe warum ich so leise bin ist mein Alter. Mit 41 habe ich erwartet, der älteste Baby Queen Fan zu sein, aber als ich die anderen „persönlich“ sehe wird mir bewusst, dass der Altersunterschied noch größer ist als ich gedacht hätte. Ich gehöre hier nicht hin. Da ich gerne neue Musik entdecke und die meisten aufstrebenden Künster*innen nunmal jünger als ich sind, bin ich es gewohnt, meist nicht zur typischen Zielgruppe zu gehören. Das wird mir oft bewusst, wie heute Abend, oder wenn ich auf Instagram sehe wie Declan McKenna Lego baut auf einem Teppich, der bei meinem Sohn im Kinderzimmer liegt. Oder wenn beabadoobee Memes postet, die ich noch nicht einmal verstehe. Ich bin dann immer voller warmer Zuneigung: ach, die Jugend heutzutage… entsprechend fühle ich mich bei diesem Zoom Event ein bisschen wie ein unerwünschtes Elternteil – ich sollte den Kids keinen Platz wegnehmen. Sie brauchen das hier, besonders jetzt, wo sie nicht einfach raus gehen und sich mit Freunden treffen können. Sie überschütten Baby Queen mit ihren Gefühlen, es fühlt sich ein wenig an wie eine Gruppentherapie-Session. Die meisten haben ihre Kamera an, was zeigt, wie wohl sie sich mit Latham und untereinander fühlen. Ich hatte mir vorher keine Gedanken gemacht, wie der typische Baby Queen Fan aussieht. Ich mochte einfach sofort ihren mitreißenden, intelligenten Pop, der in seiner Ehrlichkeit, Authentizität und seiner Gesellschaftskritik ein bisschen The 1975, ein bisschen Lorde und ein bisschen Lily Allen ist. Es ist leicht nachvollziehbar, warum Teenager sie lieben. Ein Fan outet sich als trans und fragt sie, wie sie es schafft, ihre Seele so offen zu legen, ohne Angst verurteilt zu werden. Ein Junge erzählt, er habe lange gedacht er wäre der einzige auf der Welt, der sich schrecklich fühlt, bis er ihre Musik gehört habe.
Ich muss an die Künstler*innen denken, die mir Trost gespendet haben, als ich ein Teeanger war – Tori Amos, Shirley Manson, Prince. Ich bin in den Neunzigern groß geworden, als man noch versucht hat von seinen Idolen Autogramme zu bekommen, indem man einen frankierten Rückumschlag an eine Postadresse geschickt hat. Man hat sich auf Mailinglisten eingetragen, und ab und zu hatte man ein signiertes Foto oder ein Fanzine in der Post. Man hat sich die BRAVO gekauft, die Poster raus getrennt, das Zimmer damit tapeziert und hat damit seine Mutter wahnsinnig gemacht. Am Wochenende hat man die Charts im Radio gehört, die Lieblingssongs auf Kassette aufgenommen und sich geärgert, wenn der Radio-DJ rein gequatscht hat. Pop Stars lebten gefühlt auf einem anderen Planeten, sie hatten nichts mit unserem Leben zu tun, es gab kein Internet das uns verraten hat was sie gegessen, beim Einkaufen getragen oder in diesem Moment gedacht haben. Wir haben nie ernsthaft davon geträumt unseren Idolen wirklich zu begegnen, außer die kurzen Momente, wenn wir nach der Show vor der Halle am Backstage auf sie gewartet haben – so wie Shirley Manson von Garbage, die kurz meine Hand berührt und meine Konzertkarte signiert hat. Es waren nur Sekunden, aber sie haben mir die Welt bedeutet, so wie dieser Abend heute den Baby Queen Fans. Wenn es damals möglich gewesen wäre, hätte ich so eine Zoom Party mit Shirley Manson erleben wollen? Oder, am unvorstellbarsten von allen, mit Prince? Ich weiß nicht, ob ich das verkraftet hätte. Aber um es auf den Punkt zu bringen: ich weiß nicht, ob es für alle Beteiligten gut gewesen wäre.
Bella Latham zählt The 1975 zu ihren größten Einflüssen, und das spiegelt sich auch auf ihrem Umgang mit Social Media wider. Sie sind das Paradebeispiel für eine Band unserer Zeit, die gelernt hat Social Media für ihre Zwecke zu nutzen, die mit ihren Twitter- und Instagram-Profilen eine Welt kreiert hat, in der die Fans sich massiv persönlich einbringen konnten. Auf eine Art ist Bella Latham der weibliche Matty Healy ihrer Generation, allein durch die Art, wie sie Dinge wie mentale Gesundheit, Drogenabhängigkeit und soziale Ängste thematisiert, verstärkt durch das Internet als Sprachrohr. Gleichzeitig ist sie ganz sie selbst, eine großartige Songwriterin und Performerin, die all die Referenzen verdient, die man in einem Atemzug mit ihr nennt. Es ist großartig zu sehen, wie eine junge Frau so viel Anerkennung bekommt, und ihre Stimme ist noch relevanter in Zeiten einer globalen Pandemie, die besonders jungen Leuten so viel wegnimmt. Für mich ist das hier ein ziemliches Scheißjahr, das ich irgendwann hinter mir lassen werde. Für junge Menschen, denen ihr Schulabschlussball, das erste Jahr an der Universität, die erste Beziehung, die Chance auf den ersten Sex genommen wurde, ist es viel mehr. Ein dauerhafter Verlust, der nur schwer wieder gut gemacht werden kann.
Baby Queen kreiert für all diese verlorenen Menschen einen dringend benötigten Raum, Ablenkung und ein offenes Ohr, und sie scheint selbst Antrieb daraus zu gewinnen. Aber irgendwie mache ich mir automatisch Sorgen um sie. Ich fühle eine Mischung aus Bewunderung für ihr Talent und mütterlicher (Für)sorge. Sie erzählt uns, wie wichtig es ist ehrlich zu sein, wenn man eine Verbindung zu anderen herstellen möchte und macht dann direkt weiter, indem sie über ihren Kampf gegen Depressionen und ihre zweimal wöchentlichen Sitzungen mit ihrem Therapeuten spricht. Sie scheint sich unter Kontrolle zu haben – es ist nicht so, dass sie in Tränen ausbricht, es scheint ihr sogar Freude zu bereiten, ihre Erfahrungen mit uns zu teilen – aber trotzdem frage ich mich später: ist diese Art der Interaktion wirklich gut für alle Beteiligten? Was passiert mit den Fans, die Latham als ihre beste Freundin betrachten, wenn sie erst einmal eine Million Hörer auf Spotify hat? Wenn sie diese Zoom Parties nicht mehr machen kann/möchte und die frühen Mitglieder des „Baby Kingdom“ sich von ihr verlassen fühlen? Man sagt, wenn man Künstler*innen von Anfang an verfolgt, muss man lernen sie irgendwann loszulassen und zu akzeptieren, dass sie einem nicht alleine „gehören“. Im Idealfall haben die Mitglieder des Baby Kingdoms dann immer noch einander, wie eine Familie. Darin liegt die wahre Kraft eines Fandoms. Vielleicht ziehen sie weiter zum nächsten Idol, das zum Ziel ihrer Liebe wird. Aber wo bleibt dann Bella Latham? Und was passiert, wenn die Last all dieser Gefühle zu schwer für sie wird? Das erinnert mich wieder an Matty Healy. Er hat inzwischen seine Social Media Präsenz zurückgeschraubt, hat aufgehört, nach der Shows mit seinen Fans auf der Straße Bong zu rauchen, sie zu sich auf die Bühne zu holen oder sie sogar zu küssen, wie er es am Anfang getan hat. Die Art, wie er heute mit seinen Fans interagiert ist weniger intensiv, wirkt aber gesünder: er bleibt gerne auf der Straße stehen und posiert lächelnd für Selfies, postet Bilder von Büchern die er liest oder nutzt sein Instagram für sozialen und politischen Aktivismus. Am Ende des Tages ist er nicht unser Freund, geschweige denn unser Therapeut. Er ist Künstler von Beruf, und wie jeder andere Mensch braucht er seine Auszeiten und seinen persönliche Space abseits vom Rampenlicht.
Zum Schluss der Zoom Party lädt Baby Queen uns ein, ihr per Direktnachricht unsere Telefonnummern zu schicken, damit sie uns zu ihrer WhatsApp Gruppe hinzufügen kann. Ich tue es nicht – auch wenn es mir nicht oft so geht, aber in diesem Fall fühle ich mich zu alt dafür. Eine Nachricht schreibe ich ihr trotzdem. Ich danke ihr für ihre Zeit und dafür, dass sie ihren Fans hilft, sich in dieser Zeit ein bisschen weniger allein zu fühlen. Auf meine mütterliche Art bitte ich sie noch auf sich aufzupassen, sich nicht vom Gewicht all der Emotionen ihrer Fans begraben zu lassen. Keine Ahnung, ob sie meine Nachricht lesen wird, aber ich bin froh, dass ich sie geschickt habe. Ich bin damit aufgewachsen, dass die Beziehung zwischen Star und Fan einseitig ist. Das Verhältnis, das Latham zu ihren Fans pflegt beruht viel stärker auf Gegenseitigkeit und ist deshalb auf die Dauer zum Scheitern verurteilt, denn die berühmtere Hälfte wird irgendwann unweigerlichnan den Punkt kommen, an dem sie nicht mehr so viel geben kann/will. Das beunruhigt mich irgendwie und lässt bei mir die Hoffnung zurück, dass „wenn all das hier vorbei ist“, diese Art von Zoom-Fan-Parties, wie jede andere soziale Interaktion via Zoom, einen unvermeidlichen Tod sterben wird. Lasst uns uns, sobald es geht, wieder vorne an der Bühne treffen, gegen das Gitter gequetscht unseren Idolen zujubeln und sie aus der Ferne bewundern. So wie es eigentlich sein soll.
Ali Lewis lebt in Schottland in der Nähe von Edinburgh. Die englische Originalversion dieses Textes könnt ihr hier lesen. Übersetzt wurde er von Gabi Rudolph.