Tom Odell kann, im wahrsten Sinne des Wortes, ein Lied davon singen, wenn die Musik Fluch und Segen zugleich ist. Mit gerade mal 21 Jahren beginnt die Bilderbuchkarriere des Engländers mit seinem ersten, selbst geschriebenen Album „Long Way Down“. Odell landet sofort ein Nr. 1 Album und wird mit Preisen überhäuft, darunter der begehrte Brit Award in der Kategorie „Critic’s Choice“. Besonders Frauen liegen dem smarten Engländer reihenweise zu Füßen. Eigentlich die perfekte Karriere und das perfekte Leben. Vielen jungen Musikern steigt genau dieser Erfolg schnell zu Kopf und wird zum glorifizierten, ausschweifenden Rockstar-Leben, das häufig fatal endet.
Nicht so bei Tom Odell, er stürzt sich stattdessen in die Arbeit und wird zum Workaholic. Die Musik wird zur Besessenheit, was ihm leider auf die Dauer nicht gut tut, zwischen 2018 und 2019 geht es ihm besonders schlecht. Der Höhepunkt seines Tiefs kommt im September 2019 als er, gerade von der Tour mit „Jubilee Road“ zurück, direkt nach LA weiterreist, um ohne Pause mit dem Schreiben für das nächste Album zu beginnen. „Damals wurde die chronische innere Unruhe, mit der ich schon einige Jahre lang zu kämpfen gehabt hatte, größer,“ sagt Tom Odell selbst.
Das Schlimmste was man sich als Musiker*in vorstellen kann, traf ein – er war nicht mehr in der Lage, Musik zu machen. Schlimmer kann es kaum kommen, wenn man seinen Job und das was man liebt nicht mehr ausüben kann. Das sind die Situationen, in denen einem manchmal nur noch die heimische Geborgenheit und Normalität hilft. Tom flog zu seinen Eltern nach Hause und schaffte es dort, sich aus seinem Tief zu befreien.
„Ich würde sagen, dass es eine Zeit gab, in der ich mich von allem abgekoppelt gefühlt habe“, sagt er über die textliche Inspiration zu „numb“. „Ich hatte das Gefühl festzustecken, als wäre ich im Begriff, den Sinn für Leichtigkeit zu verlieren.“ Zum Glück hat Tom Odell nach einer Pause wieder zur Musik zurückgefunden. Was auf der einen Seite zerstörerisch sein kann, kann auf der anderen Seite heilend wirken. Quasi in Eigentherapie hat er seine Erfahrungen auf dem bald erscheinenden Album verarbeitet. „numb“ ist die erste Single daraus. Ein melancholisch schöner Song, indem der Musiker verarbeitet wie es ist, wenn man nichts mehr fühlt und die große Taubheit einsetzt. Nicht nur textlich hat sein Horizont sich durch die Erfahrungen erweitert, auch musikalisch. Viele der Songs auf dem Album – die zusammen mit Songwriter Laurie Blundell und Produzent Miles James entstanden sind – neigen zu einem elektronischeren Bedroom-Pop-Sound, der Odell in den letzten Jahren immer stärker fasziniert hat. Nicht nur die Covid Pandemie erforderte eine roughere Art des Produzierens mit Instrumenten die gerade zur Hand waren, es war auch die neu erwachte Liebe zum selbstgemachtem Elektro-Pop, die ihn vorantrieb. Als eine seiner Inspirationen nennt er die experimentelle Soundkünstlerin Mica Levi.
Tom Odell schafft in seinen Songs einen musikalischen Kunstgriff – er vereint melancholische Schwere mit poppigen, strahlend frischen Melodien. In dieser merkwürdigen Zeit, in der viele von uns etwas schwermütiger sind als gewohnt, hilft es, dieses Schwere mit etwas Leichtigkeit zu versehen. Tom Odells Musik kann uns nur dabei helfen.
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