Es war einer dieser großen, polarisierenden Momente der Internationalen Filmfestspiele von Cannes. Die Königsdisziplin, die Goldene Palme für den besten Film, ging an den wie viele meinten verrücktesten Wettbewerbsbeitrag und damit erst zum zweiten Mal in der Geschichte des Filmfestivals an eine Regisseurin. Jane Campion gewann die Goldene Palme 1993 für „Das Piano“, musste sich in dem Jahr den Preis aber mit Chen Kaige für „Lebewohl, meine Konkubine“ teilen. Die französische Regisseurin Julia Ducournau ist also nicht nur erst die zweite Frau, die in der 75-jährigen Geschichte des Festivals für ihre Arbeit ausgezeichnet wird, sie ist auch die erste, die den Preis für sich allein beanspruchen kann. Für die einen war die Prämierung von „Titane“ vor allem ein Protestakt, gerichtet gegen die programmatische Ausrichtung des Wettbewerbs, der sich auch heute noch fest in männlicher Hand befindet. Losgelöst vom Werk an sich, das vielen zu brutal, zu absurd, zu wenig einzuordnen war. Für die anderen ist Ducournaus Auszeichnung ein großer, wichtiger Schritt innerhalb der Filmbranche, ein Zeichen des Aufbruchs zu einer neuen Form von Kino, abseits bekannter Erzählstrukturen, Genre- und Geschlechtergrenzen.
Es steht außer Frage, dass „Titane“ auch nach dem offiziellen Kinostart nicht aufhören wird zu polarisieren. Viele schreckt sowohl die visuelle als auch inhaltliche Härte des Filmes ab, schließlich geht es hier um eine Frau, die höchst brutal mordet, (zumindest im ersten Teil) keinerlei Empathie zu empfinden scheint und keinen Anspruch auf Sympathie erhebt. Allein das ist heute noch ein nahezu revolutionärer Ansatz, denn dem weit verbreiteten Empfinden nach funktionieren Frauenfiguren im Film nur, wenn sie Sympathieträgerinnen sind, selbst als Antagonistinnen, Verbrecherinnen oder Mörderinnen. Die Beweggründe der Frau müssen stets erkennbar sein und möglichst nachfühlbar emotional unterfüttert. Bei Alexia, der „Heldin“ von „Titane“, bleibt all dies, wie so vieles andere im Film, bewusst im Unklaren. Sie schenkt uns noch nicht einmal ein Lächeln. Sie ist nie weich, zugänglich, verführerisch oder zumindest kokett. Alles an ihr ist kalt, hart und kantig, wie die Titanplatte, die in ihren Kopf eingesetzt wurde, nachdem sie als Kind bei einem Autounfall beinah ums Leben kam.
Mit diesem Unfall und der Operation beginnt die Geschichte, womit der Maßstab für die Schonungslosigkeit der folgenden Bilder bereits in den ersten Minuten gesetzt ist. Aus dem Krankenhaus entlassen, stellt die kleine Alexia fest, dass sie romantische Gefühle für das Auto ihrer Eltern hegt. Jahre später, als erwachsene Frau, ist sie der Star einer Erotikshow, in der Frauen sich auf und um Autos herum räkeln. Dass sie sich Maschinen verbundener fühlt als Menschen, daran lässt sie keinen Zweifel, als ein übergriffiger Verehrer ihr nach der Show über den Parkplatz folgt. Noch in derselben Nacht vereint sie sich mit dem Co-Star ihrer Show, einem lüstern nach ihr rufenden Cadillac – eine Begegnung, die, wie wir bald erfahren werden, nicht ohne Folgen bleibt.
Die darauf folgende romantische Annäherung an eine junge Kollegin verläuft erst unbeholfen und endet schließlich in einer Spirale der Gewalt. Zu diesem Zeitpunkt weiß Alexia bereits dass sie schwanger ist (ganz genau, von eben jenem Cadillac), im Badezimmer der jungen Liebschaft versucht sie, sich mithilfe einer Haarnadel dem ungewollten Eindringling zu entledigen. Nur kurz darauf wird sie zur Massenmörderin, wobei sich die Haarnadel erneut als nützlich erweist. Am Ende dieser Nacht, die auch für ihre Eltern kein gutes Ende nimmt, bleibt nur noch die Flucht. Wie gut, dass überall in den Medien der Feuerwehrmann Vincent nach über zehn Jahren immer noch nach seinem vermissten Sohn sucht. Und noch besser, dass Vincent sofort bereit ist, Alexia als diesen zu akzeptieren, als sie sich als jener der Polizei zu erkennen gibt.
Nach der rasanten, absurden, extrem brutalen und optisch knallbunten ersten Hälfte passiert nun noch mehr ganz Erstaunliches. Die beiden verlorenen Seelen Alexia und Vincent reiben sich aneinander auf, lernen aber auch, sich gegenseitig anzunehmen. Während Vincent seine Männlichkeit mithilfe von Kraftübungen und Hormonspritzen versucht auf die Spitze zu treiben, löst sich Alexias geschlechtliche Identität immer mehr auf. Gleichzeitig wächst in ihrem Körper die Frucht der Liebesnacht mit dem Cadillac und beansprucht immer mehr Raum. Aus ihren Brüsten und ihrem Unterleib fließt Motoröl, ihr Bauch droht (buchstäblich) zu bersten, mithilfe von Bandagen hält sie ihn unter Kontrolle, um ihre männliche Erscheinung aufrecht zu halten.
Es ist leicht, „Titane“ auf einzelne Szenen zu reduzieren und darauf die Frage zu stellen, was das alles eigentlich soll. Man kann sich von diesem höchst grausamen Feuerwerk an Bildern, Ideen und skurrilen Wendungen, auch einfach befeuern lassen. Oder aber man wagt sich ernsthaft an die zuerst erwähnte Frage und stellt erstaunt fest, dass sie sich tatsächlich beantworten lässt. Denn „Titane“ ist, wenn man sich einmal auf den Film eingelassen hat, weit mehr als pure visuelle Provokation – er erzählt letztendlich eine ganz einfache, allgemein gültige Geschichte von der Suche nach Liebe und Akzeptanz, sowohl von anderen als sich selbst gegenüber. Dabei entwickelt er zwischen all dem Blut und Motoröl tief berührende, nahezu zärtliche Momente. Julia Ducournau geht es nicht darum, Sympathie für ihre Figuren zu entwickeln, aber in ihrer Suche nach der finalen Katharsis, verliert sie sie nie aus den Augen. Es ist eine große Freude zu sehen, wie Baustein um Baustein, so absurd er auf den ersten Blick erscheinen mag, am Ende ein sinniges Ganzes ergibt. Was die Newcomerin Agathe Rousselle und die Kino-Ikone Vincent Lindon an darstellerischer Leistung abliefern, ist dann quasi noch die Kirsche auf dem Ganzen.
Und was erscheint am Ende als das Brutalste von all dem? Es sind nicht die Morde oder das freiwillige Nase brechen (zugegeben eine wirklich scheußlich gute Szene, bei der ein kollektives Aufstoßen der Übelkeit im Publikum nie ausbleiben wird), es ist die Schwangerschaft und vor allem ihr gewaltsames Verbergen. Dass in Alexia kein normal menschliches Wesen heranwächst, ist letztendlich eine überspitzte Darstellung der körperlichen Grenzerfahrung, die eine Schwangerschaft bedeutet. Kaum etwas ist schmerzvoller anzusehen als die Szenen, in denen Alexia sich mit immer mehr Kraftaufwand den immer mehr Platz beanspruchenden Bauch versucht abzubinden. Bei allen Versuchen, das Weibliche zu verdrängen bleibt trotzdem das Gefühl zurück, dass Frauen am Ende wohl doch das stärkere Geschlecht sind. Oder aber, spielt Geschlecht überhaupt eine Rolle? Irgendwann hat man fast vergessen, wer oder was Alexia eigentlich ist, und es ist bei weitem nicht die dringlichste Frage, die bei diesem Film im Raum steht.
Erwähnt werden muss auch, dass Julia Ducournau ihre Hauptdarstellerin bei den Dreharbeiten weit weniger gequält hat als ihre Figur der Alexia. Aufgrund der sowohl inhaltlich als auch technisch extrem fordernden Dreharbeiten, durfte Agathe Rousselle das Tempo, das tägliche Pensum und ihre Leistungsbereitschaft mitbestimmen. Das allein ist ein revolutionärer Ansatz in einer Branche, die es Jahrzehntelang als ihr gutes Recht angesehen hat, Schauspieler*innen für das bestmögliche künstlerische Ergebnis weit über ihre körperlichen und emotionalen Grenzen hinaus auszubeuten. „Titane“ ist ein visionärer Film von einer Regisseurin, die ganz viel verstanden hat, sowohl künstlerisch als auch gesellschaftlich. Er ist in vielerlei Hinsicht ein Schritt in die filmische Zukunft, sowohl was Sehgewohnheiten, Storytelling und Haltung betrifft.
„Titane“ startet am 7. Oktober 2021 in den deutschen Kinos.