Es stellen sich viele Fragen rund um diesen Film. Unter anderem auch die, welcher Aussage mehr Bedeutung zukommt: Dem weich-lyrischen Aphorismus „Es liegt eine tiefe Demütigung darin, sich derer schämen zu müssen, mit denen uns einst Liebe verband“ oder dem zynisch-harten Haiku-Zitat aus dem vorliegenden Film: “Diese Wohnung stinkt. Dieses Heft ist behindert. Ich hasse alle“? Ist der Zuschauer ein sadistischer Voyeur oder ist der Film gefühlvoll? Sind die Leiden der fast 300kg schweren Hauptfigur bloß den Spezialeffekten geschuldet? Oder ist es nur latentes Body-Shaming mit Oscar-Potenzial? Fakt ist: Für ein profunderes Verständnis, sollte man dem Film „The Whale“ mit einer guten Portion Misstrauen und Zwiespalt begegnen. Regisseur Darren Aronofsky („Requiem for a Dream“, „Black Swan“) verzichtet in seinem achten Spielfilm, nach dem letzten, äußerst verstörenden „mother!“ (2017), auf seine typischen, visuellen Spielereien und beschränkt sich auf einen 4:3-Rahmen, um einen intimeren Dialog zwischen dem Zuschauer und den gebrochenen Seelen auf der Leinwand zu schaffen, ja fast schon zu erzwingen. Der Großteil von „The Whale“ spielt sich ausschließlich in der Wohnung der Hauptfigur ab, was ihn visuell minimiert, inhaltlich sich jedoch äußerst tiefgründig und schamlos entfaltet. Somit „nötigt“ der Film den Zuschauer dazu, sich für knapp 120 Minuten auf eine schonungslose Gratwanderung zwischen manipulativem Elend und konsequenter Auseinandersetzung mit der menschlichen Kondition eines Mannes zu begeben, der sich aufgegeben hat und bewusst auf seinen Untergang zusteuert. Ein Zenit, der eigentlich ein Nadir ist. Beide gehen in nahezu allen Werken Aronofky’s permanent Hand in Hand, aber was die Hauptfigur in „The Whale“ von jenen drogenabhängigen Protagonist*innen in „Requiem for a Dream“ oder von der von Perfektion besessenen Ballerina in „Black Swan“ unterscheidet, ist die bewusste Entscheidung, auf den eigenen Untergang hinzuarbeiten, in der Hoffnung auf Vergebung und Erlösung, statt einem Untergang durch Suche nach Ekstase entgegenzusteuern.
Das ambitionierte Filmprojekt „The Whale“ war ein lang ersehntes Vorhaben von Regisseur Aronofsky, welches er seit fast einem Jahrzehnt zu realisieren versuchte. Die Veröffentlichung des Films erfolgte zum wohl passendsten Zeitpunkt, sowohl in Bezug auf Aronofskys Gesamtwerk als auch auf den Hauptdarsteller, „Hollywoods verlorenen Sohns“ Brendan Fraser, der für seine herausragende Leistung sogar mit einem Oscar ausgezeichnet wurde. In dem Film trug Fraser zudem einen Fatsuit, um die Rolle einer stark adipösen Person zu verkörpern, und arbeitete eng mit der Obesity Action Coalition (OAC) zusammen, um die Rolle so authentisch wie möglich darzustellen. Fraser erzielte während des gesamten Films eine bemerkenswerte Performance und überzeugte mit seiner natürlichen Mimik, was den Oscar für das Hair & Make-Up Team ebenfalls verdient macht. Jedoch wurde das Filmteam mit starker Kritik konfrontiert, weil Fraser, der nicht stark adipös ist, einen Fatsuit tragen musste, um die Rolle zu spielen. Diese Kritik warf die Frage auf, ob ein Schauspieler, der nicht stark adipös ist, berechtigt sein sollte, die Rolle einer fettleibigen Person zu spielen. Dabei ist wichtig zu betonen, dass es in „The Whale“ darum geht, marginalisierte und von der Gesellschaft stigmatisierte Menschen in den Mittelpunkt zu stellen, ohne auf sie herabzublicken, sondern ihre Eigenheiten, Stärken und Schwächen zu zeigen. Das Filmteam hat sich dabei sehr bemüht, eine sensible und authentische Darstellung zu erreichen. Dieser Kritikpunkt ist daher unsachlich und trivial. Aber nun zu Sache.
Der Film basiert auf Samuel D. Hunters gleichnamigem Theaterstück, das er auch für die Leinwand adaptierte. Die Handlung spielt sich fast ausschließlich in Charlies (Brendan Fraser) Wohnung ab, einem Ort, den er nicht verlassen will und aufgrund seines geschwächten Körpers und seiner zwanghaften Essstörung vermutlich auch nicht verlassen kann. In dieser Kulisse kämpft er mit sich selbst und wird eins mit seiner Umgebung, während er isst, sich erbricht, kriecht, kämpft, weint und leidet. Die grauen Wände seiner Wohnung bilden dabei den Hintergrund für seine verzweifelte Suche nach Ausweg und Erlösung. Die erste Einstellung von Charlie spricht bereits Bände über die zutiefst berührende Seele des Films: Sie zeigt ihn bei der Masturbation zu einem Schwulenporno. In dem Moment, als er den Orgasmus erreicht, beginnt ein Schmerz in seiner Brust ihn zu zerfressen: das erste Anzeichen eines bald drohenden Herzinfarkts. Er wird von seiner besten Freundin Liz (Hong Chau) aufgrund seines alarmierenden Blutdrucks besorgt angesprochen. Doch Charlie scheint wenig davon beeindruckt zu sein und gibt sich stattdessen seinen Fressattacken hin, um die Leere zu füllen, die er seit dem Selbstmord seines Lebensgefährten Alan verspürt. Diese Fressattacken sind eine Art Buße, die Charlie sich auferlegt, um den Schmerz zu lindern und gleichzeitig neuen Schmerz zu erzeugen.
Charlie wiegt mittlerweile über 272 Kilogramm und kann sich nur noch mit Gehhilfen durch seine vermüllte Wohnung bewegen. Seine Englisch Literaturkurse gibt er online, wobei seine Kamera stets ausgeschaltet ist, da er aus Scham niemandem seine übermäßige Fettleibigkeit zeigen möchte. Es ist aber der Humor und die unverfälschte Seele, die in diesem gequälten Körper von Charlie und die uns mit und für ihn fühlen lassen. Über einen Zeitraum von lediglich fünf Tagen lernen wir ihn immer besser kennen und erfahren, warum er sich einer so tiefen Verzweiflung hingegeben hat. Doch hält Charlie nur eine Sache am Leben: seine Tochter, die er leider nie wirklich kennenlernen durfte. Ellie (Sadie Sink) ist mittlerweile 16 Jahre alt, und der Kontakt zu ihr wurde ihm seit der Trennung von ihrer Mutter verwehrt. Trotzdem bittet er sie zu sich, denn sie droht aufgrund mangelnder Schulleistungen das Schuljahr nicht zu bestehen.
Ellie, die ihrem Vater nichts als den Tod wünscht, nimmt sein Angebot an, ihr beim Korrigieren ihres Essays über Walt Whitmans Gedicht „Song of Myself“ zu helfen. So entsteht eine tiefe „Beziehung“ zwischen diesen beiden entfremdeten Seelen, die Charlie mit Hoffnung auf eine bessere Zukunft für Ellie erfüllt. Obwohl er für sich selbst längst den Glauben aufgegeben hat, glaubt er unerschütterlich an das große Potenzial seiner Tochter und möchte ihr aus ihrer existenziellen Abwärtsspirale helfen. Der naive Glaube an das Gute in den Anderen – Vielleicht so naiv wie der amerikanische Traum von der Chance auf vollkommene Selbstverwirklichung – vermag er trotz innerer und äußerer Schmerzen partout nicht aufgeben zu wollen. „Es ist unmöglich, nicht zu empfinden“, sagt er an einer Stelle. Diese Vorstellung ist naiv und kindisch, spricht aber Bände über die paradoxe Natur der Figur, die zwischen schwarzem Nihilismus und naivem Optimismus gefangen ist. Seine Naivität hat fast etwas Religiöses, wie Aronofsky deutlich macht, als der junge Missionar Thomas (Ty Simpkins) an Charlies Tür klopft, welcher der Sekte „New Life“ angehört, die an ein baldiges Ende der Welt glaubt. Aronofsky zeigt hier erneut seine Faszination für den biblischen Passionsweg, indem er Charlie als selbstlose Person darstellt, die zwar sich selbst aufgegeben hat, aber unfähig ist, die Menschen, die er liebt, loszulassen. Die Erlösung, so scheint es, kann nur in radikaler Ehrlichkeit liegen. Charlie teilt diese Einstellung mit Ellie und rät seinen Studierenden schließlich: „Write something you actually fucking believe“. Diese Ehrlichkeit mag naiv sein, aber in einem Film wie „The Whale“ ist sie notwendig, um gegen eine alles abtötende Gleichgültigkeit anzukämpfen.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Darren Aronofsky mit „The Whale“ einen bewegenden Film geschaffen hat, der zwischen einer brutalen und zugleich zärtlichen Darstellung von Selbstmitleid und aufrichtigem Humanismus hin und her schwankt und den Zuschauer definitiv auf einen kathartischen Passionsweg mitnimmt. Das Trio Fraser, Sink und Chau liefert eine der besten schauspielerischen Leistungen in punkto Empathie und Menschlichkeit des Jahres.
„The Whale“ startet am 27.04.2023 in den deutschen Kinos.
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