Sechs Jahre ist es her, dass ich Arcade Fire zum ersten Mal live sehen wollte. Am 19. November sollte es dann endlich soweit sein. Aber Moment, da spielten doch The Reflektors im Berliner Astra zum Tanz auf! Genau. Ich will mal nicht so sein. Nach sechs Jahren und unzähligen Dramen, die sich um verpasste Gelegenheiten dank kranker Kinder, Arbeitsterminen und verpatzter Gästelisten drehen (und die ich Euch an dieser Stelle en detail erspare), nehme ich auch die.
Dieser Abend soll also etwas ganz Besonderes werden, also gibt es heute nur ein Ziel: die erste Reihe! Da kann man sich auch mal den halben Tag frei nehmen, um sich endlich wieder wie 15 zu fühlen, mit allem was dazu gehört: Ungeduld, Vorfreude, schmerzende Füße, Herzrasen kurz bevor es ins Gebäude geht. Dazu braucht man eine gute Freundin, in diesem Idealfall auch noch eine Arbeitskollegin, die bereit ist, den ganzen Quatsch mitzumachen. Und schon kann es los gehen. Um 16 Uhr schleichen die ersten Grüppchen Richtung Astra. Jetzt gibt es kein Zurück mehr.
Schon bald wird klar: Nicht nur für uns scheint es ein besonderer Abend zu werden. Mit uns warten viele hübsche Menschen, die dem Wunsch der Band, sich in Schale zu werfen, tatsächlich nach gekommen sind. Und auch wir statten uns im entscheidenden Moment mit Make Up und Accessoires aus. Wer nichts dabei hat, kein Problem. Es gibt ein Trüppchen engagierter Facepainter, die sich noch vor Einlass unter die Wartenden mischen und ihre Dienste anbieten. Kurz vor Einlass wird ein roter Teppich ausgerollt, über den die „Band“ in ihren Pappmaché-Köpfen zu den Klängen einer Mariachi Band einmarschiert. Einer der Organisatoren grinst uns durch das Gitter an. „Ja, wir betreiben heute verhältnismäßig viel Aufwand.“
Wohl wahr! Das Astra ist mit Girlanden und Lichtern geschmückt und weckt zusammen mit der Menge gut gekleideter Gäste an den eigenen Abiball. Der ersehnte Platz in der ersten Reihe wird gestürmt und wir gehen auch direkt zum ersten Punkt des Abends über: ein sympathisches Skelett bringt uns eine Choreografie zu „We Exist“ bei, die wir gemeinsam üben und einigermaßen verinnerlichen. Wir sind bereit, es kann los gehen!
Das tut es dann um kurz nach halb neun. Die Band betritt die Bühne und stimmt „My Body Is A Cage“ an. Win Butlers Stimme ertönt, nahezu geisterhaft, von irgendwoher – wie wir später erfahren, aus den hinteren Reihen des Zuschauerraums. Das Herz sackt eine Etage tiefer. Sechs Jahre gewartet, nun passiert es tatsächlich! Zuletzt erklimmen auch Win und Régine zu „Reflektor“ die Bühne, und ab da gibt es kein Halten mehr. Die Menge braust ekstatisch auf und wird sich auch für den Rest des Abends zum größten Teil in diesem Zustand befinden.
Da wir es an diesem Abend offiziell nicht mit Arcade Fire sondern mit „The Reflektors“ zu tun haben, spielen diese auch hauptsächlich Songs aus ihrem Debütalbum „Reflektor“. Gar nicht schlimm, denn die neuen Songs gehen auch live ab wie die Rakete. Und das eine oder andere Arcade Fire Goodie wird natürlich auch eingestreut, gleich zu Anfang „Neighborhood #3 (Power Out)“ zum Beispiel. Und ein ganz großer Moment des Abends gehört Régine Chassagne, wenn sie zu „Sprawl II (Mountains Beyond Mountains)“ mit neonfarbenen Bändern in den Händen über die Bühne wirbelt.
Und dann gibt es da natürlich noch, nicht zuletzt aufgrund seiner beeindruckenden Größe nicht zu übersehen, Win Butler. Der ist, ganz entgegen seinem Ruf, an diesem Abend überaus gesprächig, versichert gleich zu Anfang, das letzte Berlin Konzert wäre eines der besten gewesen, das die Band je gespielt hat (ja, bohren Sie nur in meinen Wunden, Mr. Butler!). Und er freut sich, dass wir alle so gut aussehen. Er kippt sich Bier über den Kopf und singt Devos „Uncontrollable Urch“ unter seiner Pappmaché Maske. Und am Ende dürfen wir sogar in den Vollkontakt, als er zu „Here Comes The Night Time“ ein Bad in der Menge nimmt, während gleichzeitig Konfettibomben explodieren. Mehr Rock’n Roll geht nicht! Mir fällt auch spontan niemand ein, von dem ich lieber einen überdimensionalen Springerstiefel an den Kopf bekommen würde. Als es als letzte Zugabe dann tatsächlich noch „Wake Up“ zu hören gibt, verdrücke ich beinah ein Tränchen. So wunderschön ist es, wie Sarah Neufeld ihre Geige traktiert und Richard Parry auf die Trommel haut, dass man fürchtet, sie bricht gleich entzwei, während die gesamte Band sich die Seele aus dem Leib singt. Am Ende ist es Win Butler, der mich rettete (auch wenn ich längst verloren bin), indem er seinen Text vergisst und dafür den Moment und mich vor allzu viel Rührseligkeit bewahrt. Und dann ist es, 90 Minuten später, auch schon wieder vorbei. Nein, nein! Weiter machen!
Seitdem Arcade Fire bekannt gegeben haben, dass sie auch auf ihrer großen Tour im nächsten Jahr (noch gibt es bis auf eine Show in London keine Europadaten) ihr Publikum in Verkleidung oder Abendrobe wünschen, ist im Internet ein regelrechter Shitstorm über die Band her gegangen. Wüste Beschimpfungen waren da zu vernehmen, die Theorie wurde laut, die Band müsse mit solchen Gimmicks von ihrem mittelmäßigen neuen Album ablenken. Bullshit! Wie an diesem Abend in Berlin deutlich wurde, geht es darum, für alle Beteiligten ein Erlebnis zu kreieren, das über den Besuch eines Rock’n Roll Konzerts weit hinausgeht. Da wird hinterher im Zuschauerraum noch getanzt, während Win Butler vermummt am DJ Pult steht. Menschen werden reihenweise in ihrer schönsten Kleidung beseelt in die Nacht entlassen. Ich zumindest könnte mich jeden Tag in mein bestes Kleid werfen und zu „Reflektor“ tanzen. Und hoffe, dass es nicht wieder sechs Jahre dauert, bis ich diese wunderbare Band wieder auf der Bühne erleben darf.
Übrigens: Den Abend mit mir erlebt und mich mit sicherem Griff auf dem Teppich bewahrt, hat meine wunderbare Kollegin Dörte Heilewelt. Wie es für sie, als absoluter Newbie im Arcade Fire Universum war, könnt ihr hier lesen. Außerdem hat sie die Fotos gemacht. Meine Hände haben die meiste Zeit zu sehr gezittert.
War (endlich!) dabei: Gabi Rudolph
Fotos: Dörte Heilewelt