Alle Zeichen (augenscheinlich) auf Normalität
Ein Wochenende lang hätte man fast alles vergessen können: die Pandemie, die mit ihr einhergehenden Zeiten von Einsamkeit und vor allem ihre verheerenden Auswirkungen auf die Livemusik-Industrie. Wie mit einem Knall war sie plötzlich wieder da, die lang ersehnte Normalität, tausende von Menschen, die das größtmögliche Gefühl von Zusammengehörigkeit feiern: gemeinsam Musik live zu erleben. Und dann auch noch bei der ersten Ausgabe eines neuen Festivals, dem Tempelhof Sounds auf dem Gelände des Berliner Flughafen Tempelhofs. Eine Festivalpremiere an den Start zu bringen, ist schon in einfacheren Tagen ein mutiges Unterfangen, das man schon oft und traurig hat scheitern sehen. Dass der erfahrene Veranstalter FKP Scorpio im ersten richtigen Festivalsommer seit Beginn der Pandemie auf ein neues Format setzt, ist ein fast schon trotziger Bad-Ass-Move, mit strahlend grünem Licht und weit gelockerter Handbremse ab in die Normalität.
Denn, man könnte wie gesagt an diesem Wochenende das Gefühl bekommen, die durch die Pandemie verursachte Krise sei überwunden und die Zeichen stünden wieder voll auf unbegrenzten Unterhaltungsgenuss. Das liegt vor allem an dem suberben Line-Up des Tempelhof Sounds und dem erstaunlich reibungslosen Ablauf der ersten Ausgabe, auf beides soll später noch einmal zurück gekommen werden. Das stimmt alles wahnsinnig hoffnungsfroh, täuscht aber nur positiv darüber hinweg, dass die Branche immer noch an allen Ecken und Enden kämpft. Kurzfristige Absagen und damit verbundene Line-Up-Änderungen werden diesen Festivalsommer weiterhin maßgeblich mitbestimmen (beim Tempelhof Sounds traf es leider die mit Spannung erwarteten Acts Just Mustard, Pale Waves und Holly Humberstone), und Krankheitsfälle sind dafür leider nicht der einzige Grund. Bands scheitern auch kurzfristig daran, ihre Abstecher anzutreten, weil es an Manpower jeglicher Art mangelt: BusfahrerInnen sind heutzutage genauso knapp wie TechnikerInnen, CaterInnen und Security Personal. Hinzu kommen die mit dem Brexit verbundenen Schwierigkeiten, die besonders mittleren bis kleineren Acts beim Touren einen Strich durch die Rechnung machen können. Planungssicherheit wird es durch die Corona-Pandemie noch lange nicht geben, sie ist schließlich noch nicht vorbei. Aber ein Wochenende lang kann man schon mal so tun.
Diesbezüglich haben die OrganisatorInnen des Tempelhof Sounds wahrlich eine Glanzleistung vollbracht. Für die ausgefallenen Acts wurde akzeptabler Ersatz gefunden. Die Schlangen an Essens- und Getränkeständen überschritten nie das, was man auch in früheren Festivalzeiten als zumutbar empfunden hätte. Der zeitliche Ablauf auf allen drei Bühnen wurde regelrecht penibel eingehalten. Die Soundqualität ließ des öfteren zu wünschen übrig, auch hätte es insgesamt etwas lauter sein können, was eventuell auf die Anwohnersituation zurückzuführen ist. Dass das Tempelhof Sounds sich euphorisch als gelungen bezeichnen lässt, ist aber auch und besonders dem Publikum zu verdanken. Wir sind offensichtlich alle ausgehungert. Bands und Acts bekamen diese Energie gleichermaßen zu spüren wie die Menschen untereinander. Lange nicht mehr hat sich ein Festival so positiv, entspannt und fröhlich angefühlt, mit einer dankbaren, gut gelaunten Menschenmenge, die die Grenze von der Begeisterungsfähigkeit zum Exzess nie zu sehr überschritten hat. Gut 30.000 BesucherInnen feierten gemeinsam am Flughafen Tempelhof. Damit war das Festival nicht ausverkauft, fühlte sich aber gut besucht und nie wirklich unangenehm überfüllt an.
Der Hauptgrund für die durchweg positive Stimmung dürfte am Ende natürlich das großartige Line-Up gewesen sein, welches das Tempelhof Sounds als neues Festival in punkto Attraktivität innerhalb der deutschen Festivallandschaft direkt weit nach vorne katapultierte. Florence & The Machine, Muse und The Strokes als Headliner, hochkarätige weibliche Acts wie Griff, Freya Ridings, Anna Calvi und Courtney Barnett und eine ordentliche Dosis Post-Punk mit IDLES, Fontaines DC und Talk Show, insgesamt eine ausgeglichene Mischung aus Rock, Pop, Indie und Singer-Songwriter ließ das ausgehungerte Publikum voll auf seine Kosten kommen. Damit hat, ganz nebenbei, kaum ein deutsches Festival so viele KünstlerInnen aufgefahren, die dieses Jahr auch beim legendären Glastonbury Festival zu sehen sein werden. Da kann man doch glatt ein bisschen stolz drauf sein, dabei gewesen zu sein.
Florence lässt die Erde beben. Julian, geh nach Hause.
Auffällig war auch, dass nicht nur das Publikum, sondern auch viele der Acts selbst sich ungewöhnlich emotional ergriffen von der Rückkehr der Livemusik zeigten. Allen voran Florence Welch, die sonst auf der Bühne eher wenig Worte verliert und ihre Performance für sich sprechen lässt. Während ihres Headliner-Sets am Freitag Abend jedoch sprach sie emotional darüber, wie schwer es für sie war, durch die Pandemie am Ausüben ihres Berufes gehindert worden zu sein und wie sie fast den Glauben daran verloren habe, eines Tages wieder auf der Bühne stehen zu können. Damit zeigte sie sich nicht nur selbst höchst emotional, sondern löste im Publikum eine selten derart intensiv erlebte Welle an Emotionen aus – in den ersten Reihen flossen nicht nur die Tränen, es wurde vielerorts laut und hemmungslos geweint und geschluchzt. Kein Wunder, dass Florence & The Machine mit ihrem Auftritt ein waschechtes, messbares Erdbeben in Berlin auslösten! Der Auftritt von Muse am darauffolgenden Samstag lief im Vergleich um einiges routinierter ab. Die Band um Matt Bellamy setzte weniger auf große Emotionen denn auf große Show, da musste sogar ein überdimensionaler Laufsteg mitgebracht werden. Es gab Feuer, Konfetti und vor Kitsch triefende Videoinstallationen. Auf der persönlichen Ebene ungefähr so zugänglich wie ein toter Fisch und vom Spirit eher aus der Richtung „another day at the office“, machte die Show die meisten BesucherInnen trotzdem sehr glücklich.
Aber was war mit The Strokes Frontmann Julian Casablancas los? Was zu Anfang des letzten Konzertes am Sonntag Abend noch wirkte wie ein bisschen zu viel Rockstar Attitüde, entpuppte sich nach und nach als mindestens ein Bierchen zu viel. Mit mehr und mehr ausgestellter Lustlosigkeit, Zwischenansagen die in ihrer Länge und Inhaltslosigkeit sich im Peinlichkeitsgrad kontinuierlich steigerten und einer zunehmend respektlosen Haltung gegenüber dem Publikum wie seinen wacker aufspielenden Bandkollegen, zog er den von vielen wahrscheinlich am meisten erwarteten Auftritt des Wochenendes mehr und mehr in den Abgrund. Die Wohnzimmer taugliche Lautstärke ließ zusätzlich die Frage aufkommen, ob auch der Soundmensch an diesem Abend einen über den Durst getrunken hatte. Leider ein sehr unwürdiger Abschluss für ein wirklich großartiges Festival. Man kann nur hoffen, dass vielleicht eine zusätzliche Portion Aufregung im Spiel war. Dass sein Publikum ihm derart egal ist, wie er sich an diesem Abend gebärdet hat, möchte man Julian Casablancas irgendwie nicht unterstellen.
Headliner der Herzen
Aber zum Glück gab es ja so viele tolle weitere Acts, die den Headlinern (außer Florence natürlich) im Herzen ganz locker den Rang ablaufen konnten. IDLES bewiesen sich wieder einmal als eine der besten Livebands unserer Zeit und machten ganz im Gegensatz zu den Strokes bilderbuchmäßig vor, wie man seinem Publikum Respekt zollt. Fontaines DC sind auf der Bühne genauso jung, wild und ungestüm wie ihr Sound vorgibt. Wolf Alice waren mit Abstand die abwechslungsreichste Band des Wochenendes und lieferten gleichermaßen Moshpit-Banger, Indie-Hymnen und herrlich schmalzige Pop-Balladen (außerdem wird viel zu wenig darüber gesprochen, was für eine großartige Sängerin Ellie Rowsell ist). Courtney Barnett brachte am frühen Sonntag Abend wunderbar positive Kiffer-Surf-Vibes an den Start, die mit Seifenblasen aus dem Publikum perfekt komplettiert wurden. Es tat einem regelrecht in der Seele weh, wie ihr ab der Hälfte des Sets nach und nach das Publikum davon lief, um rechtzeitig für die Strokes an der Hauptbühne zu sein.
Womit wir auch beim einzigen zu bemängelnden, organisatorischen Punkt wären: ein paar Minuten Leerlauf für den Wechsel von einer Bühne zur anderen hätte für etwas Entzerrung gesorgt. Wenn man einen guten Platz im vorderen Pit vor der Hauptbühne ergattern wollte, war man gezwungen, die vorangegangene Show eher zu verlassen. Das schmerzte zum Beispiel bei Wolf Alice, die Rücken an Rücken mit IDLES spielten – und außerdem parallel zu den spanischen Hinds, was einen echten Interessenkonflikt bedeutete. Nur fünf zusätzliche Minuten hätten hier durchaus etwas Entspannung gebracht, auch wenn das Gelände übersichtlich und alle drei Bühnen nah beieinander waren. Aber auch mit ganz viel Mühe lässt sich nicht viel mehr Negatives über diese wunderbar ausgelassene und streckenweise herrlich emotionale Festivalpremiere sagen.