IDLES Frontmann Joe Talbot: „…so gewaltig, so liebevoll, so leidenschaftlich, so prägnant, so brutal, so fröhlich wie möglich…“

Es ist verrückt. Seitdem die Welt mit den Auswirkungen einer weltweiten Pandemie kämpft, kann ich irgendwie keine ruhige Musik mehr hören. Vielleicht liegt es an der Ruhe, die die Kontaktbeschränkungen uns zum Teil aufzwingen, aber immer wenn ich mit Sorge und Angstzuständen zu kämpfen habe (was mir in letzter Zeit leider öfter passiert), hilft mir richtig laute, aggressive Musik. Ich liebe harte Beats und Gitarren, es darf auch gerne geschrien werden. Kein Wunder, dass ich mich im Moment mehr denn je der britischen Band IDLES verbunden fühle. Ich kenne kaum eine andere Band, bei der Aggression, Wut, Liebe und Mitgefühl derart miteinander verschmelzen. Zu hören, wie Joe Talbot sich das Herz aus dem Leib schreit, bereitet mir ein seltsames Gefühl von Zufriedenheit.

Entsprechend begeistert war ich, als IDLES für dieses Jahr ein neues Album angekündigt haben, den heiß erwarteten Nachfolger ihres 2018 erschienenen Erfolgsalbums „Joy As An Act Of Resistance“. Ist das nicht genau das, was die Welt jetzt braucht? Und noch eine verrückte Anekdote: meine letzte wilde Nacht unter Leuten, so wie wir es einmal gewöhnt waren, schwitziger Körper an Körper, habe ich in einem Club in Manchester verbracht, wo Joe Talbot Hip Hop aufgelegt hat. Als wir uns an diesem Nachmittag am Telefon unterhalten, witzelt er darüber, ob ich nicht lieber etwas anderes gemacht hätte, wenn ich gewusst hätte, dass es für lange Zeit mein letzter Abend der Art werden würde. Nun, nein. Es war einer dieser Abende, an denen man sich genau richtig fühlt, dort wo man ist. 

Eins macht Joe Talbot während unserer Unterhaltung unmissverständlich klar: es liegt ihm fern, sich zu beklagen. Er möchte lieber seine privilegierte Position nutzen, um Liebe und Trost zu spenden. Und er macht es so, wie er es am besten kann: laut und nachdrücklich.

Wie geht es dir? Es ist doch bestimmt schwierig, in dieser seltsamen Zeit ein Album raus zu bringen.

Um ehrlich zu sein, ganz persönlich hat diese Zeit mir bewusst gemacht, wie viel Glück ich habe. Ich bin sehr dankbar, dass wir eine Hörerschaft haben, die uns durch all das hindurch trägt. Wir sind absolut privilegiert und können trotz allem weiter machen, weiter arbeiten. Wir sind also sehr dankbar. Wir haben viele Freunde, die sehr unter der Situation leiden. Es ist ein Alptraum. Wir gehören zu den wenigen Glücklichen und sind verdammt, verdammt dankbar. Und was es angeht ein Album raus zu bringen… das Album leidet nicht darunter. Es geht darauf um Selbstwahrnehmung und darum, das Gefühl der Isolation zu bekämpfen, das Gefühl für einen selbst zu verlieren. Ein existentielles Schlachtfeld, auf dem du nur gewinnen kannst, wenn du dich weiter entwickelst und dich selbst akzeptierst. Es ist die perfekte Zeit, um „Ultra Mono“ rauszubringen. Für mich, für uns als Band und für unser Publikum. Es fühlt sich einfach richtig an. 

Wann genau habt ihr das Album aufgenommen?

Wir haben letztes Jahr im September aufgenommen, im Juni, Juli und August haben wir geschrieben.

Ist das nicht großartig? Es ist jetzt seit einem Jahr fertig, die Situation auf der ganzen Welt hat sich geändert, und trotzdem ist alles, was ihr darauf zu sagen habt aktueller denn je. 

Ja! Ich glaube das kommt daher, dass ich mit einem Gefühl für Durchlässigkeit schreibe. Weißt du, ich glaube es ist eine Art von Therapie. Ich glaube, ich bin nicht alleine mit diesem Gefühl von Desillusion und Isolation durch politische Polarisation, einer toxischen Beziehung mit dem Internet und Social Media und all dem Mist. Wirklich, ich glaube dieses Gefühl von Desillusion und Isolation gab es schon lange bevor die Pandemie passiert ist. Die Leute fühlen es jetzt stärker, es ist dadurch eskaliert, dass auch noch die physische Quarantäne dazu kam. Aber eine existentielle emotionale Quarantäne gab es schon lange davor, aufgrund der ideologischen Pandemie, in der wir leben. Ich glaube, das Gefühl von Verlust und Orientierungslosigkeit hat mich schon immer beschäftigt. Weil ich orientierungslos war. Und ich hatte ein Gefühl von Verlust. Vielleicht bin ich einer der wenigen, die sich während der Pandemie jetzt sicher fühlen… (überlegt) ich weiß nicht. Aber ja, dieses Album fühlt sich definitiv relevant an.

Was du gerade meintest erinnert mich an etwas, das ein Freund von mir neulich gesagt hat. Er ist Psychologe und meinte, verrückter Weise geht es manchen seiner Patienten durch die Pandemie sogar besser. Vielleicht weil sie nicht den Druck haben, im normalen Leben zu funktionieren. Ich fand das seltsam und interessant.

Ja! Ich… (seufzt) Ich weiß auch nicht, es kommt drauf an, oder? So viele Menschen sind durch die Situation logistisch komplett traumatisiert. Es hängt davon ab wer du bist und wie dein Leben davon betroffen ist. Ich kann von mir nur sagen, dass ich viel Glück hatte und dass wir als Band sehr viel Glück hatten. Wir konzentrieren uns mehr auf das was wir tun können als auf das was wir nicht tun können. Viele haben keine Wahl, sie können sich nur auf das konzentrieren was sie nicht tun können. Wie ich schon sagte, wir gehören zu den wenigen Glücklichen, die in dieser Zeit trotzdem blühen und anderen helfen können, sie durchzustehen. 

Ich schätze es sehr, dass du so denkst. Ich habe oft das Gefühl, dass es viele Menschen gibt, die gar nicht so schwer betroffen sind und sich trotzdem die ganze  Zeit beschweren. Ich weiß, es ist für jeden eine schwierige Situation. Aber ich denke manchmal, dass die, die schwer betroffen sind, vernünftiger damit umgehen. 

Ich meine… vielleicht hatte ich als weißer Mittelklassemann das Glück mich verantwortlich zu fühlen, zu erkennen welche Privilegien ich habe und sie zum Wohl anderer zu nutzen. Weißt du, ich verstehe erst im Moment so richtig, wie privilegiert ich bin und versuche meine Dankbarkeit dafür zu zeigen, indem ich etwas Produktives mache. Und meine Energie auf positive Weise zu nutzen. Aber… wer weiß.

Mein erster Gedanke als ich das Album gehört habe war – verdammt! Das ist ja tatsächlich alles nochmal einen Tacken schärfer als „Joy As An Act Of Resistance“. Ich hätte gar nicht gedacht, dass das möglich ist. Es ist härter, lauter, hat noch mehr Inhalt und verbreitet noch mehr Liebe.

(lacht) Nun… das Album ist aus einem Prozess der Destillation heraus entstanden. Es wurde aus Selbstzweifel geboren und dem Bedürfnis, sich selbst zu hinterfragen, uns als Band zu hinterfragen. Durch unseren Erfolg haben uns mehr Leute beobachtet, uns gehört, uns kritisiert, uns besprochen… wir wollten darauf nicht einfach reagieren, sondern uns hinterfragen und einfach wir selbst sein. Darum geht es auf „Ultra Mono“, ein verbindendes Gefühl der Selbstakzeptanz im unmittelbaren Moment. Wir wollten gleichermaßen produktiv und bedeutungsvoll sein. Damit im Hinterkopf ging es darum, alles zu komprimieren und einfach nur der Inbegriff von IDLES zu sein. So gewaltig, so liebevoll, so leidenschaftlich, so prägnant, so brutal, so fröhlich wie möglich zu sein. Verstehst du? Einfach im Augenblick zu sein. 

Weißt du was mir immer in den Sinn kommt, wenn ich an IDLES denke? Es gibt ja viele Menschen, die behaupten frei und voller Liebe zu sein. Und wenn man genau hin sieht, steckt eigentlich eine Form von Aggression dahinter. Sie versuchen, ihre Aggression und ihren Egoismus hinter angeblicher Liebe zu verstecken. Und IDLES sind das genaue Gegenteil davon. 

Ja… ich glaube, das ist ein Stilmittel, uns einen Platz in der Kultur zu sichern. Wir sind eine bekannte Band im Pop-Universum. Nun ja, wir sind natürlich eine Rockband. Unsere Message ist es, uns einen Weg durch die Gewalt zu bahnen. Die Leute im Internet, auf Social Media sind sehr voreingenommen und unempathisch. Es geht ihnen nicht um viel, außer sich selbst. Da wollen wir durch, mit einem Gefühl von Wucht und Gewalt aber einer Message von Liebe und Mitgefühl. Deswegen verstehen viele Leute unsere Message auch nicht oder wehren sich gegen sie. Aber wir meinen das alles so, wie wir es sagen. Wir wollen ein Gefühl für Liebe, Mitgefühl und Empathie vermitteln. Aber um heutzutage gehört zu werden, musst du wirklich laut werden.

Musikalisch habe ich gehört, habt ihr euch diesmal sehr von Hip Hop inspirieren lassen. Wenn ich mir die Lyrics anschaue, wie sie strukturiert sind, dann erinnert mich das ein bisschen an spontanes Poetry Slamming. Mehr Poesie als klassische Songtexte.

(überlegt) Okay…

Ich habe gehört, dass du viele dieser Texte spontan während der Aufnahmen geschrieben hast. 

Ja, das stimmt. Ich glaube, die Inspiration für das Album war ein Gefühl von Kraft. Vollkommen mit sich im Reinen zu sein, um sich im Augenblick komplett ganz zu fühlen. Und ich glaube, Sound technisch erreicht man das am besten mit Wucht und Kraft. Ein ganzheitlicher Sound, der entweder aus einer einzelnen Snare-Drum entsteht, oder wenn drei Leute zur gleichen Zeit das Gleiche machen. Maximale Wucht, um ein Gefühl der Vereinigung zu erreichen. Und das kam unter anderem durch Techniken vom Techno und Hip Hop, auch manche Popmusik oder Wagner… alle möglichen Quellen, die ein Gefühl von Vereinigung transportieren. Dadurch ist uns die Idee gekommen, mehr Untertonfrequenzen in unserer Musik zu benutzen, damit diese Wucht sich auch im Auto oder auf der Stereoanlage Zuhause überträgt. Es ist viel einfacher, diese Wucht live zu übertragen als auf Platte. Deshalb haben wir uns diesmal etwas mehr auf den Sound und die Produktion konzentriert. 

Und dieser Sound und die Songs, das hat dir die Inspiration für deine Texte geliefert?

Ja, das ganze Album dreht sich um das Thema Ultra Mono. Die Grundidee war da. Ich habe mir jeden Song oft angehört, bevor ich ins Studio gegangen bin und hatte ein Thema oder einen Titel für den Song fertig. Nicht alle, aber sechs Songs vielleicht habe ich im Studio geschrieben. Ich wollte so sehr wie möglich im Moment sein. Um das so zu erreichen war mein Ziel ich mich nicht zu hinterfragen und die Songs unmittelbar im Studio zu schreiben. 

Kam es daher auch, dass du dich zum Teil ganz von Worten entfernt hast?

Ja, damit habe ich rum gespielt, mit der Idee, einfach nur ein Geräusch zu sein. Das ist etwas sehr Animalisches, Pures. Wenn du dich selbst komprimierst, was bleibt dann? Eine Reihe von Geräuschen mit animalischen Wünschen und Bedürfnissen. 

Anfang der Corona-Krise habe ich mit Jehnny Beth gesprochen. Es war das erste Interview, das ich am Telefon machen musste, weil es plötzlich nicht mehr möglich war, sich persönlich zu treffen. Ich habe sie gefragt, wie es für sie war mit dir zusammen zu arbeiten. Das möchte ich als letzte Frage an dich zurück geben. Wie war es für dich, mit Jehnny Beth zu arbeiten?

Inspirierend. Ich meine, sie ist eine sehr kraftvolle Künstlerin und Performerin. Es war eine große Ehre, mit ihr auf ihrem Album zusammen zu arbeiten. Und es machte absolut Sinn, dass sie bei uns bei „Ne Touche Pas Moi“ dabei ist. Allein schon, weil sie mir mit meinem schrecklichen Französisch helfen konnte. Außerdem war es wichtig, eine weibliche Perspektive zu haben, wenn es um das Thema geht, die körperlichen Grenzen anderer zu akzeptieren. Sie ist einfach eine großartige Künstlerin. Sie arbeitet sehr hart und ist ein sehr purer Mensch, und ich bin sehr dankbar, dass sie auch eine Freundin ist. 

Das ist toll, ich kann dir verraten, sie hat über dich etwas ganz ähnliches gesagt. In „How Could You“, dem Song, den ihr gemeinsam für ihr Album aufgenommen habt, geht es um Eifersucht und sie meinte, dass sie deinen Blick auf das Thema sehr geschätzt hat. 

Weil Eifersucht für mich ein großes Thema war, als ich jünger war. Ich war ein sehr unsicherer Mann. Oder eher ein Junge in einem Männerkörper. Es war gut, das Thema mit Abstand betrachten zu können, eher als etwas aus meiner Vergangenheit als etwas aus meinem gegenwärtigen Leben. Das war eine große Erleichterung.

Und dann habt ihr erneut ein Dirty Dancing Zitat eingebaut. 

Ja! Ich meine, alles führt doch zurück zu Dirty Dancing, oder? Es ist ein großartiger Film. Er ist in vielerlei Hinsicht problematisch, hat seine Logiklöcher. Aber ich liebe ihn. 

Foto © Tom Ham