Natürlich dachte niemand, dass Grace Jones mit ihren mittlerweile 68 Jahren (!!) dezent gekleidet mit zart ergrautem Minipli und Perlensteckern im Ohr die Bühne betreten würde, aber mit diesem funkelnden, explosiven Spektakel hat nun wirklich kein Mensch gerechnet. Als futuristische Afro-Königin betritt sie die Bühne und als Göttin wird sie sie verlassen. Ihr immer noch höchst athletischer Körper ist über und über mit weißen Schriftzeichen und Symbolen bemalt, sie trägt eine riesige goldenen Totenkopfmaske mit glühenden Augen und bedrohlichen Stacheln. Wie ein schillerndes, schönes Raubtier räkelt und stolziert sie über die Bühne.
Mit „Nightclubbing“ geht die Show los. Die tiefe, gewohnt lasziver Stimme, der eingängige Rhythmus – dieser Song ist unmöglich von 1981 und damit 35 Jahre alt. Ganze Jungmusikergenerationen würden sich für so viel vollkommen selbstverständliche Lässigkeit diverse Körperteile abtrennen lassen. Das Original von Iggy Pop (zusammen mit David Bowie geschrieben) ist rau, direkt, pur, fast obszön. Diese Attribute lassen sich alle auf die Version von Grace Jones anwenden und dennoch transportiert ihr Nightclubbing noch mehr, mehr… Ja, was denn? Mehr Eleganz? Ja. Auch. Mehr Sex? Ja. Eindeutig. Dieser Beat, zusammen mit dieser fabelhaften Attitüde, lockert in Sekundenbruchteilen Nacken und Beckenboden. Chilly Gonzales wird zwei Tage später in der Kölner Kulturkirche sagen: „Ich habe eine No-Reggae-Regel. Mit einer Ausnahme: Grace Jones.“ Die Jamaikanerin schaffte das Kunststück, die Disco-Ära pünktlich zu verlassen und ihren eigenen Sound zu kreieren: eine wahnsinnig lässige Melange aus eben Reggae und New Wave. Diese Mischung aus einerseits Traditionellem und andererseits völlig Unvorhersehbaren ist das Markenzeichen, wenn sie überhaupt eins hat, von Grace Jones. Sie turnt im Baströckchen an einer Poledance-Stange (und dem dazugehörigen nahezu unbekleideten, muskelbepackten Tänzer) rum, schnallt sich einen farblich abgestimmten Strap-On um, lässt zu „Slave To The Rhythm“ einen Hula-Hoop-Reifen eine gefühlte halbe Stunde um ihre Hüften kreisen und hält bei all diesen Verrenkungen und Tanzeinlagen die Stimme als wäre die Zeit stehen geblieben. In regelmäßigen Abständen verschwindet Grace Jones zwecks Outfit-Wechsel hinter die Bühne, lässt dabei aber grundsätzlich das Mikrofon an und die Zuschauer an ihren Gedanken teilhaben: „I need a german boyfriend. No, a german girlfriend. No, a big German Shepherd!” Grace Jones ist die große Diva, ein fleischgewordenes Kunstwerk, ein unbeschreibliches Phänomen und sie nimmt sich was sie will. Grace Jones ist Freiheit.
Plötzlich geht das Licht aus. Alles schwarz. Ein Schatten huscht von links nach rechts. Der Disco-Computerspiel-Beat von „Love Is The Drug“ setzt ein. Grace Jones steht in einem langen schwarzen, enganliegenden Mantel in der Mitte der Bühne und trägt eine mit kleinen Spiegeln besetzte Melone. Ein einziger Lichtstrahl fällt geradlinig auf ihren Hut und der komplette Konzertsaal erstrahlt. Grace Jones bewegt sich während des Stücks fast nicht, nur der Lichtstrahl variiert farblich. Dieser simple, aber wahnsinnig effektvolle Trick lässt die ausgeklügelten, überbordenden Lasershows von Coldplay wirken wie eine mit Taschenlampen erhellte Nachtwanderung einer Unterstufen-Klassenfahrt in die Vulkaneifel.
Bei „Pull Up To The Bumper“ lässt sie Konfetti in die Menge schießen und besteigt spontan einen Ordner. Dieser trägt sie etwas widerwillig, aber pflichtbewusst durch das Publikum. Anschließend wird sie selbstverständlich darauf hinweisen, dass kaum noch Farbe an ihrem Nippel klebt. Aber ehrlich gesagt interessiert das längst keinen mehr. Vor der Bühne steht eine glücklich wippende, knutschende, von Sekt und Reggae-Tunes beseelte, tiefenentspannte Menschenmenge und wartet nur auf die nächste wunderschöne Inszenierung, das nächste Bild, die nächste Phantasie.
Zum Schluss schickt Grace Jones noch einmal alle in die Ästhetik der 80er. Zu „Hurricane“ stemmt sie sich in einem riesigen, bauschigen Mantel aus schwarzer Ballonseide gegen eine Windmaschine. Der Stoff tobt, steigt auf, wickelt sich um sie, verhüllt die halbe Bühne, reißt an ihr – aber sie bleibt stehen, völlig unbeeindruckt, die Naturgewalt, die Göttin. Fulminanter hätte das Electronic Beats Festival nicht beginnen können.
Nun gut, nach diesem Feuerwerk war es einigermaßen schwierig nachzulegen. Donnerstags spielten M⊘ und Woman im ausverkauften Gloria. Grizzly, Noema und die 106er kaperten im Anschluss das Jack Who. Generell stand über fünf Tage das Jack-in-the-Box-Gelände im pinken Zeichen des Electronic Beats Festivals. Food Market, Vinyl Market, der legendäre Nachtkonsum und die interaktive Ausstellung „Electronic Beats Exhibition“ boten ein sehr schönes „Pausenprogramm“ für die wechselnden DJ-Sets. Per Holmquist forderte zum Beispiel mit seiner Installation „Beat Blox“ die Besucher auf, mit Hilfe von Holzklötzchen auf Plattentellern ihre eigenen Beats zu kreieren. Um den eigenen Rhythmus ging es auch beim Mr-808, dem interaktiven Drum-Robot von Sonic Robots. Die Macher bauten den 80er Jahre Drum Computer mit analogen Mitteln nach. Die Besucher konnten digital ihre eigene Musik programmieren und beobachten wie das skurrile Konstrukt aus Trommeln, Schellen und Becken sie abspielt. Die Ausstellung hatte im weitesten Sinne das Ziel elektronische Musik zu veranschaulichen: Wie ist sie aufgebaut, welche Ebenen gibt es, mit welchen Sinnen ist sie erfahrbar? Von gekoppelten Raschelkästchen über soundabgestimmte Lichtinstallationen bis zum 3-D-Pinsel – die Ausstellung forderte sämtliche Sinne ihrer Besucher.
House-Pionier Kerri Chandler gab sich am Freitag direkt zwei Mal die Ehre. Erst im Jack in the Box, später im Gewölbe. Währenddessen spielte allerdings Ausnahme-Musiker Chilly Gonzales in der bis auf den letzten Platz belegten Kulturkirche in Nippes. Gonzales war nicht eben verwundert, was ausgerechnet er als Pianist (ein zugegebenermaßen analoges Instrument) denn beim ELECTRONIC Beats Festival zu suchen hätte. Spontan verwandelte er sein Konzert in eine Masterclass und unterrichtet seine begeisterten Zuhörer in Orgel- und Rap-Kunde. Die vertraglich ausgehandelten 33,3 Prozent „Electronic“ absolvierte er mit Hilfe eines Keyboards, welches auf dem Schoß des Hünen im Bademantel einem winzigen Puppenspielzeug glich. Aber Profi Gonzales lässt sich von solchen Lappalien wie Optik nicht verunsichern und beweist sein unglaubliches Talent eben auch in dem er „lediglich“ Knöpfchen drückt. Trotz aller Albernheit und Lehrstunde spielte Gonzales ein sehr schönes, emotionales Konzert in seiner Wahlheimat Köln.
Vermutlich aufgrund des sehr, sehr sommerlichen Wetters hatten es Natalia Nykiel und Roosevelt am frühen Abend im Club Bahnhof Ehrenfeld ein bisschen schwer. Die treuen Fans des Kölner Musikers Roosevelt fanden sich dennoch ein und tanzten ausgelassen zu seinen Disco-House-Beats. Den Abend beschloss das britische Elektronikduo Honne mit einem kostenlosen Geheim-Konzert. Wer sonntags immer noch nicht genug hatte oder möglicherweise einfach noch wach war, konnte beim kostenlosen Kompakt Open Air im Jack in the Box zu Michael Mayer, Matt Karmil und weiteren Acts im nassen Sand tanzen. Den gebührenden Abschluss legte Schlagzeug-Legende Tony Allen im Club Bahnhof Ehrenfeld hin. Wir sind platt und freuen uns auf nächstes Jahr.
War dabei: Julia Floß
Foto Grace Jones ©Telekom Electronic Beats/Peyman Azhari
Foto Chilly Gonzales ©Telekom Electronic Beats