„Food for Worms“ heißt das frisch erschienene, dritte Album der Londoner Post-Punk Band shame, und es wirkt gar nicht so, als würden die fünf Jungs sich darauf im Erdboden zurückziehen. Im Gegenteil, nach dem oftmals vertrackt dahin galoppierenden Sound ihres zweiten Erfolgsalbums „Drunk Tank Pink“ klingen shame geradliniger und direkter als je zuvor und nehmen sich gleichzeitig alle Freiheiten – im Sinne von Einfachheit, gedrosseltem Tempo und so schönen Dingen wie hymnischem Chorgesang.
Hat die Pandemie ihren Teil zu diesem musikalischen Befreiungsschlag beigetragen? Via Zoom hat Gitarrist Eddie Green mir erzählt, wie die Zwangspause sich auf die Kreativität der Band ausgewirkt hat und warum eine strikte Deadline ihnen geholfen hat, zu neu inspirierter Hochform zurückzukehren. Und ein bisschen philosophiert haben wir auch.
Schön, dass ihr wieder da seid. Wie ist es euch in den letzten Jahren ergangen? Ihr hattet vor Covid ja ein wirklich verrücktes Tour-Pensum.
Ja. Unser Ansatz war schon immer, je mehr du spielst, desto besser wirst du. Wir sind bestimmt ein bisschen zu viel getourt. Aber es war wichtig, dass wir das gemacht haben. Dadurch haben wir ein paar Grenzen für die Zukunft gesteckt. Unser Schedule war wirklich lächerlich. Einige Leute haben uns ab einem gewissen Punkt sogar davon abgeraten. Wir waren damals richtig, richtig jung, das hat uns zugespielt. Die Müdigkeit, die damit einherging, war nicht wirklich ein Problem. Und für die Kreativität war es auch gut. Du hast da diese fünf jungen Typen, deren Gehirne komplett überstimuliert werden von all dem Neuem, das ihnen täglich passiert. Es hat uns geholfen, kreativ zu bleiben. Wenn man älter wird ist es schwierig, so ein Level an Stimulation und Begeisterung konstant aufrecht zu halten. Je älter man wird, desto erfahrener wird man, und die kleinen Dinge, die einen früher begeistert haben, regen einen nicht mehr so auf. Es war auf jeden Fall wichtig für uns, dass wir diese verrückten Jahre hatten. Sie haben uns als Songschreiber und Musiker extrem beeinflusst. Und ich würde definitiv nicht zurück gehen und irgendetwas daran ändern. Gleichzeitig bin ich froh, dass wir heute an dem Punkt sind, dass wir nicht mehr so viel touren müssen. Ich meine, im Vergleich zu anderen Artists und Bands touren wir immer noch ziemlich viel. Aber weil wir es wollen, nicht weil wir unbedingt müssen. Die Performance ist für uns der wichtigste Teil unserer Arbeit.
Letztes Jahr, ich glaube es war im April, wart ihr die erste Band, die ich live gesehen habe, ohne dass es noch irgendwelche Corona bedingten Einschränkungen gab. Einfach alle rein in den Saal und los ging’s.
Das war eine seltsame Tour. Deutschland war das letzte Land, das die Corona Bestimmungen hat fallen lassen. Überall war es total entspannt. Dann kamen wir nach Deutschland und es hieß sofort: „Wo ist deine FFP2 Maske?“ (lacht) Aber die Show in Berlin war der Wahnsinn. Man hat diese ganze angestaute Frustration im Publikum gemerkt, nach dem Motto: ahhh, uns war jetzt lang genau langweilig… jetzt drehen wir mal ein bisschen durch! Das hat Spaß gemacht.
Ich hatte ein paar Videos gepostet und die Leute haben mir geschrieben: Ist das ein Moshpit? Sowas gibt’s noch?!
(lacht) Ich erinnere mich wirklich gerne an die Show. Ich mag das Venue. Es ist ein großer Raum, aber es gab keine Trennung zwischen uns und der Menge. Und niemand wollte danach nach Hause gehen! Wir sind noch in eine Bar gegangen und gefühlt das halbe Publikum war da. Es war so lustig.
Es hat sich bei uns wirklich lang hingezogen. Wir waren quasi noch im Lockdown, da habt ihr in UK schon wieder angefangen, Festivals zu veranstalten.
Während der Pandemie war man einerseits ständig frustriert, weil man raus gehen und etwas erleben wollte. Andererseits hatte man ein schlechtes Gewissen, man wollte verantwortungsbewusst handeln und das Richtige tun. Es war ein ständiger innerlicher Kampf. Vor allem, als die Rolle der Regierung anfing mit einzuspielen. Wir wussten hier alle, dass unsere Regierung mit Corona ziemlich rücksichtslos umgegangen ist. Sollten wir diese Festivals wirklich veranstalten? Ist das der richtige Weg? Gleichzeitig wussten wir, wir müssen es einfach. Wir haben zwei Jahre lang kein Geld verdient. Wir haben eine von diesen Social Distance Covid Touren gemacht. Das war einfach nur scheiße (lacht). Okay, ich sage das so, aber es war auch gut, raus zu gehen und etwas zu tun. Wir haben überall in England gespielt. Zu der Zeit waren wir die einzige Band im ganzen Land, die auf Tour war. Wir haben uns komplett an die Regeln gehalten. Das Publikum musste sitzen, und da die Kapazitäten so beschränkt waren, mussten wir jeden Abend zwei Shows hintereinander spielen. Wir haben also in einem Venue vor 30 Leuten gespielt, hatten eine halbe Stunde Pause und haben das Ganze nochmal gemacht. Es war so seltsam. Bei manchen Shows sind die Leute einfach aufgesprungen und haben getanzt. Man konnte spüren, dass es nicht natürlich war, sich so einzuschränken. Dann, kaum dass wir mit der Social Distance Tour fertig waren, wurden die Bestimmungen gelockert, und zwei Wochen später waren wir Headliner beim Wide Awake Festival und haben vor 17.000 Leuten gespielt. Ich dachte okay, letzte Woche habe ich in einem Pub in Blackpool vor 20 Leuten gespielt, heute in London vor 17.000.
Wir haben ja vorhin schon über Kreativität gesprochen, da habe ich eine Frage für dich. Glaubst du, dass jeder Mensch von Natur aus kreatives Potential hat und wir es nur unterschiedlich ausschöpfen?
(überlegt) Nein… das heißt, vielleicht hat jeder von uns grundsätzlich kreative Fähigkeiten. Aber nein, ich glaube definitiv, dass es Menschen gibt, die überhaupt nicht kreativ sind. Es hängt damit zusammen, wie dein Gehirn funktioniert. Ich glaube auch nicht, dass es etwas Schlimmes ist, nicht kreativ zu sein. Es interessiert auch nicht jeden. Ich kenne eine Menge Leute, die überhaupt nicht kreativ sind.
Im Yoga gibt es diese Philosophie, dass jeder Mensch kreativ geboren wird und dass es wenn dann unsere Lebensumstände sind, die uns davon abhalten, es auszuleben.
Ich meine, es hat bestimmt etwas mit Umständen zu tun, mit unserer Umwelt und unseren Lebensbedingungen. Es gibt bestimmt Menschen, die angeboren kreativ sind, aber deren Lebensumstände nicht zulassen, dass sie es ausleben. Wenn man nie dazu ermutigt wird kreativ zu sein, dann wirst du auch nie Zugang zu dieser Seite von dir finden. Ich weiß nicht… ich war mir so sicher, aber je länger ich darüber nachdenke… es ist eine ziemlich große Frage (lacht). Ich glaube aber zumindest, dass manche Menschen grundsätzlich kreativer sind als andere. Und dass es solche gibt, die es überhaupt nicht in sich haben. Und das ist okay. Deren Leidenschaft und Motivation liegt dann woanders. Aber die Lebensumstände spielen sicherlich auch eine große Rolle. Wie du siehst, kann ich mich nicht entscheiden (lacht). Weil ich wirklich viele Leute kenne, die das überhaupt nicht im Blut haben. Aber wer weiß, vielleicht haben sie auch nie den Zugang dazu gefunden. Oh, was für eine schwere Frage! (lacht)
Und was würde es mit unserer Gesellschaft machen, wenn wirklich jeder sich kreativ ausleben würde?
Das klingt ehrlich gesagt grauenvoll! (lacht) Ich weiß nicht, ob ich das würde erleben wollen, wenn alle rum rennen und ständig versuchen, kreativ zu sein. Das müsste irgendwie limitiert werden.
Dann lass uns zu euch zurückzukehren. Was hat den Startschuss für euer neues Album gegeben?
Wir hatten eine frustrierende Phase hinter uns, in der wir vergeblich versucht hatten zu schreiben. 2021 waren wir zwischen den Lockdowns, die Dinge liefen langsam wieder an, wir hatten einige gute Ideen, aber nichts davon ist fertig geworden. Das war ziemlich frustrierend. Dann kam 2022, also jetzt vor einem Jahr, und wir dachten, wir müssen uns irgendwo hin zurückziehen, und wir müssen eine Deadline, ein Ziel vor Augen haben. Also dachten wir, lasst uns zwei kleine Shows in London organisieren, bei denen wir nur neues Material spielen. Auf die Weise ist der größte Teil dieses Albums entstanden. Wir haben so lange versucht herauszufinden, wer wir in der post-pandemischen Welt sein wollen, dass wir fast aus den Augen verloren hätten, was es eigentlich bedeutet, einen Song zu schreiben. Wir sind mit einer ziemlich relaxten Attitüde an die Sache ran gegangen, haben uns gedacht, nicht alles muss immer super kompliziert sein. Lass uns einfach ein neues Set Songs schreiben und damit eine Show spielen. Wir haben daran dann natürlich noch gefeilt und Sachen verfeinert, aber im Prinzip ist es das, was wir jetzt haben. Alles hat damit angefangen, dass wir uns selbst eine Deadline gesetzt haben, und das hat extrem gut funktioniert. Wir haben in der Vergangenheit so viel Zeit damit verbracht, uns selbst Druck zu machen. Unser zweites Album war musikalisch ja eher komplex und kompliziert, und wir dachten, wir müssen da irgendwie wieder hinkommen. „Kompliziert“ war für uns ein Qualitätsstandard. Letztendlich sind wir mit diesem Album in eine ganz andere Richtung gegangen. Der Sound ist sicherlich groß und aufregend, aber nichts daran ist übermäßig kompliziert.
Es war auch eine ziemlich knappe Deadline, die ihr euch gesetzt habt, oder?
Oh ja. Die Gigs waren zwei Wochen nach Ende der Deadline. Natürlich hat das Album sich danach noch geändert. Aber ein überraschend großer Teil des Albums ist in zehn Tagen intensivem Schreiben entstanden. Es ist fast ein bisschen komisch so darüber zu reden, es klingt, als hätten wir die Dinge überstürzt. Es hat uns selbst überrascht, wie schnell am Ende alles zusammen gekommen ist, so schnell haben wir noch nie gearbeitet. Ich hoffe wirklich, den Leuten gefällt das Album immer noch, nachdem ich das gesagt habe (lacht).
Ich finde nicht, dass Schnelligkeit bedeutet, dass man automatisch schludert oder es nicht richtig macht. So ein kurzer Zeitrahmen gibt einem ja auch die Möglichkeit, hyperfokussiert zu arbeiten.
Finde ich auch. Wir hatten schon immer eine sehr perfektionistische Einstellung. Das hat dazu geführt, dass wir in der Vergangenheit Dinge gerne verkompliziert haben. So eine klare Deadline zu haben war wichtig für uns. Ich will nicht sagen, dass wir Zweifel hatten, aber es gab Momente, in denen wir hinterfragt haben, ob wir noch so gut sind, wie wir einmal waren. Die Deadline hat uns positiv gezwungen, Dinge einfach fertig zu machen, ohne zu groß drüber nachzudenken. Mit den Songs, die so entstanden sind, waren wir am Ende sehr zufrieden.
Ich finde auch, dass dieses Album sehr geradlinig seinen Weg geht.
Absolut. Ich hoffe, dass die Leute das schätzen. Ich weiß nicht so ganz, was sie zu diesem Zeitpunkt erwarten, nachdem unser zweites Album recht experimentell und kompliziert war. Ich könnte mir vorstellen, dass manche gehofft haben, wir gehen diesen komplexen Weg weiter. Das haben wir eindeutig nicht getan. Ich habe keine Ahnung, wie dieses Album ankommen wird. Was wir in diesem Prozess als Songwriter gelernt haben ist, dass den Dingen Raum zu lassen nicht unbedingt schlecht ist. Ich erinnere mich, dass wir beim vorigen Album oft das Gefühl hatten, dass sobald irgendwo Raum entsteht, wir ihn sofort füllen müssen. Aus Angst, dass es sonst langweilig wird. Auf diesem Album gibt es viel mehr Raum, mehr Mut zu Pausen. Das vorige Album war auf jeden Fall frenetischer, jugendlicher. Wir haben die Einfachheit zugelassen.
In eurem Press-Release steht auch: Ihr habt dieses Mal lieber gemeinsam gesungen, als einen alleine schreien zu lassen.
Wir haben viel mehr mit den Vocals experimentiert. Das war auf diesem Album ein echter Schlüsselmoment. Für mich ist das komisch, ich singe auf diesem Album sehr viel, was ich noch nie vorher gemacht habe. Ich habe mit dem Singen live angefangen, aber im Studio hat mir das noch einmal ganz andere Perspektiven eröffnet, was Schreiben und Aufnehmen angeht. Es war großartig. Wir haben auch viel zusammen im Chor gesungen.
Würdest du sagen, dass wir durch die Pandemie, in der wir ja buchstäblich, physisch voneinander getrennt wurden, gelernt haben Miteinander, Gemeinschaft und Gesellschaft neu und mehr zu schätzen?
Ich glaube ja. Ich glaube, dass die Menschen durch die Bank weg sich ihrer selbst mehr bewusst geworden sind. Die Zeit der Pandemie hat ihnen den Mut gegeben, mehr nach innen zu schauen. Ich glaube, wir haben das auch selbst erlebt, dadurch, dass wir erst so viel Zeit miteinander verbracht haben und dann plötzlich komplett voneinander getrennt waren. Seltsamerweise haben wir uns besser kennengelernt. Man nimmt auf einmal ganz andere Dinge am anderen wahr, weil es dazwischen dieses große, leere Feld gab. Bestimmte Charaktereigenschaften hätten sich früher vielleicht durchgeschlichen. Die Zeit, die wir hatten, einander in Abwesenheit zu analysieren, hat uns enger zusammen wachsen lassen. Das gilt aber auch für Leute außerhalb der Band. Aber man kann heute nicht mehr vor ein paar Tausend Leuten auf der Bühne stehen ohne sich daran zu erinnern, dass wir das einmal nicht konnten – diese eine große Sache, die wir so sehr lieben.
Und wie waren sie am Ende, diese zwei Shows, die das Ziel eurer Deadline waren?
Das lief super! Die Leute haben irrsinnig gut auf das neue Material reagiert. Das ist ja immer ein Risiko. Aber wir haben diese neuen Songs inzwischen schon oft und an vielen Orten gespielt. Das ist ein Geschenk, weil die Fans sie auf diese Weise kennenlernen können und wir kriegen unsere Übung. Ich kann es kaum erwarten, sie überall auf der Welt zu spielen und immer wieder neue Dinge auszuprobieren.
shame live:
26.03.2023 München, Technikum
27.03.2023 Berlin, Festsaal Kreuzberg
28.03.2023 Hamburg, Markthalle
04.04.2023 Köln, Gloria
Foto © Pooneh Ghana