Sarah Neufeld im Interview: „Ich bin sehr inspiriert von Tanz und Bewegung“

Sarah Neufeld hat viel zu tun, im besten Sinne. Erst im März veröffentlichte sie ein Album mit einer ihrer Bands, Bell Orchestre. Als wir uns über Zoom unterhalten steht sie kurz vor der Veröffentlichung ihres neuen Soloalbums „Detritus“, das ursprünglich aus einer Zusammenarbeit mit den Peggy Baker Dance Projects entstanden ist. Die Songs wurden ursprünglich als Soundtrack für eine Tanzperformance geschrieben und entwickelten sich nach und nach zu den Stücken weiter, die nun auf „Detritus“ zu hören sind. Das Projekt nahm seinen Anfang im Jahr 2018, kurz nachdem Sarah Neufeld eine große Tour mit ihrer Band Arcade Fire beendet hatte. Dann kam Corona und damit eine Zwangspause für Auftritte jeder Art, aber Sarah Neufeld sollte weiter beschäftigt bleiben. Sie musste herausfinden, was Corona für den weiteren Verlauf ihres Lebens bedeutet, für sie als Künstlerin und für die Tatsache, dass sie auch Unternehmerin ist und eine Reihe von Yogastudios in New York besitzt. Und ganz nebenbei ist sie auch noch Mutter geworden. 

Zum Zeitpunkt unserer Unterhaltung ist sie sehr müde, gebeutelt von dem Schlafentzug den es mit sich bringt, Mutter eines Neugeborenen zu sein. Aber sie strahlt auch viel Freude und Energie aus und freut sich, endlich der Veröffentlichung eines Albums entgegen zu sehen, das länger als geplant warten musste, um das Licht der Welt zu erblicken. Und natürlich sprechen wir über die Geige, die sie für Arcade Fire und Bell Orchestre spielt und die das zentrale Element ihrer wunderschönen, sehr besonderen Soloarbeit ist. 

Wie ist die Situation in New York? Ich habe gehört, dass es sehr viel besser geworden ist. 

Ehrlich gesagt ziemlich gut. Es wird sehr viel geimpft. Über 50 Prozent der Berechtigten haben bereits ihre Impfung bekommen. Die Lage ist entspannt, die Zahlen sehr niedrig. Ich sage das gar nicht so gerne zu Leuten die nicht hier sind, aber wir haben gerade großes Glück. Nicht nur, weil die USA Zugang zu den Impfstoffen hat, sondern auch weil die Menschen es annehmen und die Regierung es uns leicht macht dran zu kommen. Die Botschaft von oben ist sehr eindeutig, es gibt keine politische Verwirrung. Ich persönlich fühle mich sehr sicher, und die Leute sind sehr respektvoll miteinander. Gleichzeitig fängt das Leben endlich wieder an Spaß zu machen. Man kann Freunde treffen und sich zum Essen verabreden. Ich habe mich noch nicht drinnen verabredet, aber das muss man auch nicht. Es ist so schön draußen in New York. 

Und ich habe gehört, dass du Mutter geworden bist. Herzlichen Glückwunsch!

Danke! Es ist großartig. Nur sehr wenig Schlaf (lacht). Aber langsam fängt es an Spaß zu machen. Er entwickelt immer mehr Persönlichkeit. Er ist immer noch so klein, aber alles ist ein bisschen weniger verrückt. Die ersten sechs Wochen dachte ich nur: was zum Teufel passiert hier? (lacht) Du versuchst erstmal dein Kind kennenzulernen und herauszufinden wie es funktionieren könnte, für alle Beteiligten. 

Ich möchte ja nicht sagen, dass es ideal ist, ein Kind mitten in einer globalen Pandemie zu bekommen, aber im besten Fall hattest du ein bisschen mehr Zeit das alles rauszufinden, oder?

Ja. Obwohl er gerade geboren wurde, als die Dinge langsam wieder losgingen. Er wurde genau in der Woche geboren, in der eine meiner Bands ein Album rausgebracht hat. Wir haben dafür viel Presse gemacht, und unmittelbar nachdem er geboren wurde habe ich angefangen, für dieses Album Presse zu machen. Dann haben letzte Woche meine Studios in New York wieder aufgemacht und ich war noch nicht einmal da (lacht). Ich besitze zwei Yogastudios und habe das Gefühl, ich hinke mit allem hinterher. Die Dinge bewegen sich, aber ich kann mich noch nicht so bewegen. Geschweige denn wenn Leute mich fragen, ob ich eine Tour plane… wie könnte ich eine Tour planen?! (lacht) Ich kann ja noch nicht mal zum Yoga gehen.

Und trotzdem hast du so viel geschafft! Du hast ein neues Soloalbum raus gebracht. Erzähl mir, wie alles angefangen hat. Ich weiß, dass es ursprünglich mit einem Tanzprojekt anfing, für das du die Musik geschrieben hast.

Ich habe die Musik für ein Stück der Peggy Baker Dance Projects geschrieben, das das ganze Jahr 2019 über auf Tour war. Die Zusammenarbeit hat 2018 angefangen. Die Stücke, die jetzt auf „Detritus“ sind, sind quasi die Kernmelodien daraus, aber der Live Soundtrack hatte noch viele andere Elemente, mehr Schlagzeug von Jeremy Gara, Ambient Elemente und Improvisationen. Als ich 2018 angefangen habe daran zu schreiben, hatte ich sehr stark das Gefühl, dass das genau die Richtung ist, in die ich als Künstlerin gehen will. Es war, als würde innerhalb meiner Arbeit ein eigener, kleiner Mikrokosmos entstehen. Als die Tour Ende 2019 vorbei war, habe ich angefangen die „Detritus“ Versionen aufzunehmen. Ich hatte das schon eine Weile geplant und auf den richtigen Zeitpunkt gewartet, die letzten Jahre waren ziemlich hektisch. Im Februar 2020 haben wir eine letzte Performance mit der Dance Company gemacht, unmittelbar bevor es mit Corona los ging. Das Timing war in dieser Hinsicht wirklich ziemliche Glückssache. Dass das Album für ein Jahr in der Warteschleife hing, hat mir nicht so viel ausgemacht. Es war fertig, ich hatte Ende Februar buchstäblich den Deckel drauf gemacht und konnte komplett Pause machen. Bis ich einen Release-Plan hatte war es Herbst, und wir waren inzwischen alle daran gewöhnt abzuwarten was passiert. Ich bin so froh, dass ich diese letzten Jahre erleben durfte. Bis Ende 2018 war ich auf Tour mit Arcade Fire, und direkt danach haben wir diese unglaubliche Multimedia-Tanz-Musik-Video-Licht-Performance auf die Bühne gebracht. Das war ein wunderschönes, ganz besonderes Projekt für mich. Ich bin sehr inspiriert von Tanz und Bewegung. Es ist keine Rock Show. Ich liebe Rock Shows natürlich, aber es ist eine ganz andere Erfahrung. Dass meine Musik in diesem anderen Kontext existieren durfte, war sehr befriedigend. Sie durfte so ein reiches, erfülltes Leben haben. 

War die Corona-Pause denn auch auf eine Art hilfreich? Ich habe inzwischen von mehreren Künstler*innen gehört, dass sie am Ende sogar ganz froh waren über eine Zwangspause. 

Na ja, ich bin im Juni schwanger geworden und hatte das Gefühl, dass ich mich da erstmal drauf konzentrieren muss. Dann wurden auch noch meine Studios geschlossen, das hat mich ganz schön in Anspruch genommen. Ich hatte sehr viel Verantwortung zu tragen. Es war also nicht wirklich eine Pause, sondern eine sehr angespannte Zeit. Ich war natürlich traurig, dass meine Shows gecancelt wurden, aber eigentlich auch ein bisschen erleichtert. Nicht, weil es mir so wahnsinnig viel kreative Freiheit gegeben hat, sondern weil ich Zeit hatte mich um das zu kümmern, worum ich mich kümmern musste. Es war für mich also eine etwas andere Erfahrung. Viele meiner Künstler-Freunde konnten in eine Art kreativen Winterschlaf gehen. Das klingt schön, ich bin ein bisschen neidisch, so etwas hatte ich nicht (lacht). Am Anfang habe ich ein wenig Musik geschrieben. Aber dann hat mich alles andere in Anspruch genommen und ich hatte eine lange kreative Durststrecke. Jetzt habe ich ein Neugeborenes und nicht viel Zeit kreativ zu arbeiten, fühle mich aber langsam wieder kreativ und kann schon richtig hören, wie mein nächstes Album klingen wird. Ich kann kaum erwarten damit anzufangen. Aber ja, ich hatte nicht diese erfrischende Pause, die du meinst.

Aber auf jeden Fall eine Pause, die Sinn gemacht hat!

Ja! Als Musikerin und Mutter bin ich froh, dass ich nicht einer Tour entgegen sehe, die in zwei Monaten anfängt – jetzt da ich weiß, wie anstrengend Kleinkinder sein können (lacht). Ich bin so erschöpft im Moment. 

Du siehst großartig aus!

Ich habe Rouge aufgetragen (lacht). Ich war wirklich noch nie so zerstört wie im Moment. Versteh mich nicht falsch, die Stimmung ist großartig, es ist nur dieser Schlafentzug. Ich kann mir gerade nicht vorstellen, auf die Bühne zu gehen. Ich würde umfallen (lacht). Vielleicht nicht mit der Band, aber für meine Solosachen muss ich drei Stunden am Tag üben. Ich muss sehr gesund und sehr ausgeruht sein. Es ist so anspruchsvoll, ich kann mich nicht einfach entspannen und denken, das wird schon. 

Ich nehme an, du musst quasi immer üben, auch wenn du nicht auftrittst, oder?

Ja, normalerweise schon. Aber in der Schwangerschaft ist mir etwas Seltsames passiert. Ich habe das Gefühl in meinen Händen verloren. Die Schwangerschaft hat bei mir sehr schweres Karpaltunnelsyndrom ausgelöst, und ich habe immer noch damit zu tun. Ich kann jetzt wieder spielen, aber ich übe im Moment nicht. Neulich habe ich aufgenommen, das hat Spaß gemacht, ich war sehr froh, dass ich das wieder tun konnte. Aber ich brauche richtig Reha für meine Hände. Ich hatte noch nie etwas, das mich so schwer beeinträchtig hat. Ich kann jetzt viel mehr nachvollziehen was es bedeutet, wenn Musiker*innen durch so etwas durch müssen – wenn du das verlierst, worauf du am meisten angewiesen bist. Es ist fast, als würde man sein Ego und seine Identität aufgeben.

Wow. Das ist heftig. Es tut mir sehr leid, dass du das durchmachen musstest. Ich habe dein Video zu „The Top“ gesehen und sofort gedacht wie schön du aussiehst, mit deinem Babybauch und deiner Geige.

Danke! Ich habe das Video mit tauben, paralysierten Händen gedreht. Also, ich habe nur zum Playback gespielt, es war nicht geplant, den Live-Sound für das Video zu benutzen. Aber ich musste mit der gleichen Energie spielen. Es musste nur nicht gut klingen, das war Glück. Ich hatte einen Eimer mit Eiswasser, all sowas. Aber ich wollte es unbedingt machen. Ich hatte all diese Gedanken und Ängste rund um das Bild meines Körper in der Schwangerschaft. Nach dem Motto, würde ich jemals schwanger auf die Bühne gehen? Also habe ich mich spät in meiner Schwangerschaft entschieden dieses Video zu drehen und damit zu zeigen: ja, ich kann das! Und hier ist es. Ich habe es einfach gemacht. Für mich, aber auch für andere Frauen da draußen. Vielleicht sieht jemand es und bekommt ein anderes Gefühl dazu, sich in diesem Zustand der Welt zu zeigen. Ich weiß nicht, ich musste es einfach machen. 

Um noch einmal auf das zurückzukommen, was du vorhin gesagt hast. Du hast bereits im letzten Februar die Arbeit am Album beendet, den Deckel drauf gemacht, wie du so schön gesagt hast. Wie fühlt es sich an, ein Album so lange fertig zu haben, bevor es tatsächlich raus kommt?

Nun, ich wusste ja nicht was passieren würde, als ich den Deckel drauf gemacht habe. Meiner Planung nach war ich zu dem Zeitpunkt schon zwei Monate spät dran. Es sollte eigentlich letzten Frühling rauskommen. Dann kam Corona und um ehrlich zu sein, es ist das erste Mal, dass ich vielleicht sogar noch glücklicher mit meiner Musik bin, jetzt da ich ein bisschen Zeit damit hatte und sie nicht sofort nach draußen schicken musste. Ich habe mir das Album im September zum ersten Mal richtig angehört. Corona war so ein Schock, ein Trauma, so eine komische Zeit. Bis ich es mir wirklich anhören konnte, war mein Gehirn durch all die anderen Sachen einmal durchgefegt. Und dann hat es mir so gut gefallen! Ich hatte Sorgen, dachte: was, wenn ich es hasse? Aber dann habe ich play gedrückt und dachte: ohhhhh… das gefällt mir! Ich fühle mich gut damit, es ist wunderschön! Die Distanz hat mir also gut getan. Und außerdem, weil es vorher dieses ganz andere Eigenleben auf der Bühne hatte, habe ich ein wenig Zeit gebraucht, es noch einmal neu kennenzulernen. Jetzt, ein Jahr später, kommt es raus. Es ist das perfekte Timing (lacht).

Unser Interview mit Sarah Neufeld könnt ihr hier auch im englischen Original lesen.