„Red Rocket“ von Sean Baker: Authentisch, wertfrei, schwer zu ertragen

Sean Baker hat ein Herz für Figuren, die sich eher am Rand der Gesellschaft bewegen und trotzdem versuchen, ein gutes, irgendwie menschenwürdiges Leben zu führen. Sein 2018 erschienener Film „The Florida Project“ spielte vor den Toren Disney Worlds, im Milieu der Dauermieter in den Motels rund um den Themenpark. Es geht um drohende Obdachlosigkeit, Geldmangel, Prostitution und vor allem um die Kinder, die versuchen, möglichst unberührt von all dem ihre Kindheit zu genießen. In „Tangerine L.A.“, zwei Jahre zuvor auf damals revolutionäre Weise komplett mit dem iPhone 5 gedreht, ist der zentrale Handlungsort der Transsexuellenstrich in Los Angeles. Aber es sind nicht nur die schweren Themen, die Sean Baker faszinieren, er scheint auch keine Scheu vor inszenatorischen Herausforderungen zu haben. Er arbeitet zum Beispiel bevorzugt mit Laien, denen er zum Teil erstaunliche Leistungen entlockt, wie zum Beispiel Bria Vinaite, die er über ihre Instagram Seite für die Hauptrolle in „The Florida Project“ entdeckte. Sean Rex, der männliche Hauptdarsteller in seinem neuen Film „Red Rocket“, startete seine Karriere vor der Kamera als Pornodarsteller. 

Das verbindet ihn unmittelbar mit dem von ihm dargestellten Mikey, einem ausgebrannten Mittvierziger, der eines Tages wieder in einem Vorort von Texas City vor der Tür seiner Exfrau Lexi (Bree Elrod) steht und um Einlass bittet. Er hat seine Pornokarriere im fernen L.A. beendet und möchte wieder in der alten Heimat Fuß fassen. Die Sonne brennt, die Luft ebenfalls. Lexi und ihre Mutter haben erst einmal wenig Interesse daran, Mikey wieder bei sich aufzunehmen, aber mit einem Rest von Klein-Jungen-Charme und ungenierter Überredungskunst besorgt Mikey sich doch noch das ersehnte Dach über dem Kopf. Es ist auch durchaus ein Rest Anziehungskraft vorhanden zwischen Lexi und Mikey, die früher gemeinsan vor der Kamera standen. Im Bett finden sie schnell wieder zueinander, auch wenn dafür der Einsatz der blauen Pillen erforderlich ist. Und tatsächlich gibt Mikey sich Mühe, einen Job zu finden und somit zu einem geregelten Leben zurückzufinden, aber sobald er seine gerade beendete Karriere erwähnt (was er durchaus mit Stolz tut), schließen sich alle Türen, bevor sie überhaupt richtig geöffnet wurden. Also bleibt ihm nichts anderes übrig, als alte Kontakte zu reaktivieren und in den Drogenhandel einzusteigen. Klingt ein bisschen nach dem Anfang vom Ende, aber tatsächlich geht es damit für Mikey erst einmal bergauf. Denn obendrein trifft er in einem Donut-Laden auf die 17 jährige „Strawberry“ (Suzanna Son), die es ihm nicht nur auf Anhieb angetan hat, sondern ihn auch ganz lässig mit Kundschaft versorgt. Für Mikey rückt ein neuer Traum in greifbare Nähe – gemeinsam mit „Strawberry“ zurück nach L.A. zu gehen und sie zum neuen Star am Pornohimmel zu machen. 

„Red Rocket“ ist in jeder Hinsicht ein typischer Sean Baker Film. Er hat ein untrügliches Gespür dafür, Menschen , ihre Lebenssituation und die Umgebung, in der sie leben, so authentisch einzufangen, dass man sich dem nicht entziehen kann. Man spürt die Hitze und die Langeweile, die Perspektivlosigkeit und die kleinen, verzweifelten Anflüge von Hoffnung. Hinzu kommt, dass er dabei nie den Zeigefinger erhebt, er ist die Fliege an der Wand, nie Moralist. Seine Figuren sind eindeutige Typen, dabei aber erfreulich wenig stereotyp. Die 17 jährige „Strawberry“ zum Beispiel lässt sich äußerst selbstbestimmt und sehenden Auges auf einen fast dreimal so alten, eindeutig abgehalfterten Typen ein. Warum sie das tut, lässt sich nur schwer nachvollziehen, aber sie ist nicht das naive Opfer. Schade nur, dass es mit fortschreitender Laufzeit zunehmend schwierig wird, auch nur an eine der Figuren anzudocken. Das ist der große Unterschied zu „The Florida Project“, dort fiel es einem leichter, die Figuren trotz ihres Fehlverhalten anzunehmen und mit ihnen zu fühlen. Und im Vergleich mit „Red Rocket“ wird einem erst richtig bewusst, wie wichtig in „The Florida Project“ Willem Dafoe als Hotelmanager Bobby war, der als Empathie-Kompass den Laden versucht hat zusammen zu halten. Mikeys konstante Touren aus lügen, abziehen, betrügen und moralischer Abgeschlagenheit, werden auf die Dauer schwer erträglich, und es gibt auch keine einzige Figur, die als positives Gegengewicht dienen könnte. 

So bleibt am Ende hauptsächlich der Respekt vor einem Regisseur, der den desillusionierten Alltag der amerikanischen Unterschicht authentisch und wertfrei wie kaum ein anderer einfängt. Das cineastische Vergnügen muss sich hierfür diesmal hinten anstellen.