Am Ende verliert Milla ihn doch noch, ihren letzten Milchzahn, der sich an ihr Gebiss geklammert hat wie ein letztes Relikt ihrer Kindheit. Zu dem Zeitpunkt hat sie ihre erste große Liebe erlebt und eine Entscheidung getroffen, die nicht nur den Abschied von jener Kindheit bedeutet. Es ist eine von vielen subtilen Schlüsselszenen in „Milla meets Moses“, dem Spielfilmdebüt der australischen Regisseurin Shannon Murphy, das im Original bezeichnender Weise „Babyteeth“ heißt.
Millas erste Liebe ist keine gewöhnliche. Moses und sie treffen sich zum ersten Mal auf einem Bahnsteig. Treffen ist hier wörtlich zu nehmen, Moses (Toby Wallace) stößt Milla (Eliza Scanlen) um, in einem Moment der Andeutung, dass Milla mit sich und dem Leben hadert. Er schnorrt sie um eine Spende an, sie bietet ihm 50 Dollar, wenn er dafür auch etwas für sie tut. Zuerst ist es eine neue Frisur, die mithilfe einer Hundeschermaschine in Angriff genommen wird, aber das ungewöhnliche Paar entwickelt schnell eine tiefe, für Außenstehende seltsam anmutende Zuneigung zueinander. Milla ist 16, Moses 23, sie ist todkrank, er drogenabhängig und seit dem Rauswurf von Zuhause ohne festen Wohnsitz. Millas Eltern, ihre Mutter (Essie Davis) eine ehemalige Konzertpianistin, ihr Vater (Ben Mendelsohn) Psychiater, stehen der Verbindung entsprechend skeptisch gegenüber, fühlen sich aber zunehmend machtlos. Wie kann man dem eigenen Kind, das einem frühen Tod entgegen geht, die erste große Liebe verweigern?
Und wie weit geht man, um sie zu ermöglichen? Nach anfänglichem, nachvollziehbarem Widerstand entscheidet Millas Vater sich für einen ungewöhnlichen Weg und bietet Moses an, ihn mit verschreibungspflichtigen Narkotika zu versorgen, wenn er dafür bei ihnen einzieht. Tatsächlich bleibt Moses’ Motivation gegenüber Milla lange undurchsichtig, es scheinen mehr die in ihrem Haushalt leicht zu bekommenen Medikamente zu sein, die ihn zu ihr hin ziehen. Als Millas Mutter ihn deswegen bei einem nächtlichen Einbruch stellt, ist Milla noch bereit, darüber hinwegzuziehen. Doch dass der Vater sich später als Komplize erweist und Moses somit ins Haus gelockt hat, verletzt sie. Es ist eine Art von Beziehung, die als Eltern zu tolerieren schwer bis unmöglich ist. Dass man es trotzdem versucht, bringt in allen Beteiligten Neues und zum Teil Erstaunliches zutage.
Die Geschichte von Milla und Moses mag sich ungewöhnlich, filmisch aber nicht unbedingt neu anhören. Die Herangehensweise ist es dafür umso mehr. Shannon Murphy erzählt ihren Film in ruhigen, pastellfarbenen Bildern, die modern und zeitlos zugleich wirken. Nach den Regeln des epischen Theaters wird der Inhalt der einzelnen Kapitel mit Texttafeln vorweg genommen, sodass der Fokus weniger auf dem liegt was passiert, sondern wie es sich vollzieht. Das ist es auch, was sowohl Buch und Inszenierung so besonders macht. Es ist ein sehr offener, vorurteilsloser Blick, der auf jeder einzelnen Figur liegt – dem drogenabhängigen Straßenjungen, dem Vater, der ihn mit Narkotika versorgt und mehr Erfahrung mit ihm teilt, als man es auf den ersten Blick vermuten würde. Selbst die leicht prollige Nachbarin, die hochschwanger Zigarette rauchend eingeführt wird, verdient einen zweiten Blick und lässt erahnen, dass sie ihn wert ist. Alle Figuren entsprechen nicht wirklich der Norm, wirken dabei aber nicht überzogen, sondern einfach nur zutiefst menschlich.
Gleichzeitig wird die Beziehung zwischen den beiden nie über-romantisiert. Zweifel über den zu großen Unterschied in Jahren und Lebenserfahrung bleiben stets spürbar, genauso wie die Verzweiflung aller Beteiligten, die Ratlosigkeit gegenüber einer höchst tragischen Situation, die Umdenken, fehlerhafte Umwege und das Hinterfragen moralischer Kodexe erfordert.
Trotz seines Indie-Charakters ist „Milla und Moses“ alles andere als ein kleiner Film. Auf der Leinwand entfaltet er dank seiner Farben, seines superben Soundtracks und nicht zuletzt des durch die Bank weg großartigen Ensembles eine große, starke Kraft. So ein Film gehört ins Kino. Deshalb an dieser Stelle noch einmal der Appell, die Kinos in dieser schwierigen Zeit mit einem Besuch zu unterstützen. Damit Filme wie dieser auch in Zukunft die Möglichkeit haben, ihre volle Magie zu entfalten.
„Milla meets Moses“ startet am 8. Oktober 2020 in den deutschen Kinos.
Fotos © Lisa Tomasetti