„More“ von Pulp: Bauernmärkte, Pendlerzüge, ruhige Kneipen und Wohltätigkeitsläden

„More“, das erste Pulp Album nach 24 Jahren, sollte eigentlich nie entstehen. Pulp Frontmann und Gründer Jarvis Cocker war sich fast ein ganzes Vierteljahrhundert sicher, dass er nie wieder eine Platte machen wollte. „This is Hardcore“ im Jahr 1998 fertigzustellen, war für ihn , wie er sagt, „Folter“ – er fühlte, dass es für Pulp der Anfang vom Ende war. Die Band veröffentlichte ihr letztes Album „I Love Life“ im Jahr 2001, bekam dafür gemischte Kritiken und zog sich daraufhin weitgehend zurück. In den dazwischenliegenden Jahren haben sie sich 2011 und 2023 zweimal reformiert, um eine Reihe von gefeierten Live-Shows zu spielen. Aber sie haben sich immer widersetzt, etwas Neues zu veröffentlichen.

Man kann die Zurückhaltung verstehen. Selbst die leidenschaftlichsten Oasis-Fans sind wahrscheinlich erleichtert, dass keine neue Musik die riesige Reunion-Tour in diesem Sommer begleiten wird. Wenn man in seinen Fünzigern oder, wie im Fall von Pulp, in seinen Sechzigern, wird es einfach schwierig. Wie schafft man es, Songs zu kreieren, die immer noch frisch klingen, wenn man durch und über alle klassischen Themen des Rocks gelebt und gesungen hat – die Höhen und Tiefen von Sex und Liebe, den Reiz und gleichzeitig das Übel von Drogen – und die Erfahrung gezeigt hat, dass politische Songs selten das Weltgeschehen verändern? Was bleibt da noch zu erkunden? Und wie baut man auf einem Katalog auf, der so einzigartig und beliebt ist wie Pulps Hitserie in den 90ern, wie „Common People“ und „Disco 2000“. Massive Songs über Küchenspülen-Dramen, die heute noch so lebendig klingen? Vielleicht sogar noch lebendiger als damals? Wie umarmt man die Zukunft, anstatt nur die Vergangenheit zu feiern?

Das Gefühl der Unzulänglichkeit, der Ablehnung, nie das Mädchen zu bekommen

Aber was Pulp nie wirklich erkundet haben, sind Gefühle. Ihre Währung waren Ideen und Konzepte, Erzähler statt Protagonisten. Trotz der Einstufung unter den „Big Four“ der britischen Brit-Pop-Szene der 90er Jahre waren sie immer Außenseiter. Pulp waren älter als Blur, Oasis und Suede, um nur einige zu nennen. Sie waren Teenager bei ihrer Gründung im Jahr 1978, aber Cocker war 31, bevor Pulp endlich mit ihrem vierten Album, dem für den Mercury Prize nominierten „His ‘n’ Hers“ von 1994, erfolgreich wurde. Sie entstanden aus 80er Pop und Post-Punk, nicht aus klassischem Rock ‘n’ Roll, wie wenn Abba auf The Fall trifft. In ihrer Musik inszenierten sich Pulp als die ironischen, rauchenden Beobachter in der Ecke der Party, immer zu beschäftigt mit Denken, um wirklich im Moment zu sein. “Is this the way they say the future’s meant to feel,”, sinnierte Cocker berühmt in den Eröffnungszeilen von 1995’s Meditation über die Rave-Kultur „Sorted for E’s & Wizz“. “Or just twenty thousand people standing in a field?” 

Pulps größte Songs packten das Gefühl der Unzulänglichkeit, der Ablehnung, nie das Mädchen zu bekommen, in clevere Sätze, eine hochgezogene Augenbraue und zackigen Tanzschritt. Sie waren auch politisch – „Common People“ bleibt der schärfste Angriff der Popmusik auf den Klassentourismus – und sie lebten, was sie predigten. Cocker wurde verhaftet, weil er 1995 bei der Brit Awards-Zeremonie gegen Michael Jackson protestierte, indem er die Bühne stürmte und während seiner Darbietung seinen Hintern zeigte, das Ganze live im Fernsehen übertragen. Pulp waren mutig, offen und kompromisslos. Sie beeinflussten so unterschiedliche Acts wie Franz Ferdinand, Yard Act und The 1975 mit ihrem intelligenten Pop, der einen zum Tanzen, aber auch zum Nachdenken bringt. Cocker vermied es lediglich, sich dabei zu nah an seine eigenen Gefühle heranzuwagen.

All das begann sich 2019 zu ändern, als Cocker sich an einem Scheideweg fand. Seine langjährige Beziehung ging zu Ende und er erinnert sich, dass er sich verloren fühlte und sich fragte, was zum Teufel er da eigentlich tat. Er begann, sich mit Gefühlen auseinanderzusetzen, die er lange vermieden hatte. Ein Teil davon fand seinen Weg in „The Hymn of the North“, ein Song, der auf „More“ enthalten ist, ursprünglich aber für ein Theaterstück von Simon Stephens komponiert wurde. Der orchestrale Song richtet sich an Cockers jugendlichen Sohn und gibt ihm Ratschläge für die Zukunft. Es war der Beginn von „More“. Der Tod von Pulps Bassisten Steve Mackey im Jahr 2023 und Cockers Mutter im folgenden Jahr ließen ihn schließlich erkennen, dass neue Musik in ihm schlummerte. „Man erkennt, dass man selbst noch lebt“, sagt er. „Und dass man immer noch die Möglichkeit hat, etwas zu kreieren“.

Aufrichtigkeit, Verbindung, Liebe und im Moment sein

Diesmal gingen sie es anders an. Mit James Ford, dem Produzenten von Arctic Monkeys und Fontaines D.C., um nur einige zu nennen, an der Spitze, nahmen sie das Album in nur drei Wochen auf. Und es fühlte sich nicht wie Folter an. „More“ ist ein zutiefst hoffnungsvolles Album über den Lauf der Zeit, das Erwachsenwerden und das Verständnis des eigenen Platzes darin. Es ist alles so anders als die düstere Botschaft von „Help the Aged“, dem Track, den die Band in ihren mittleren Dreißigern über das Altern schrieb, das “such a lonely place” sei. Aber Reife verändert die Perspektive. „More“ hat keine Zeit für den Zynismus, die Launenhaftigkeit und die unerwiderten Sehnsüchte, die oft die Kunst junger Menschen prägen. In der Lebensmitte haben wir gelernt, dass der Alltag deprimierend genug sein kann und die Zeit durch die Finger gleiten kann, wenn man es zulässt. „More“ handelt von Aufrichtigkeit, Verbindung, Liebe und vor allem davon, im Moment zu sein.

Die erste Single „Spike Island“ stellt Pulps Standpunkt für 2025 dar, wirbelnder Synth-Pop, der den Hörer auffordert, lebendig zu werden, angetrieben von der Überzeugung, dass es an der Zeit ist, es richtig zu machen. Es ist ein unmittelbarer Hinweis darauf, dass die Band nichts von ihrer Kraft verloren hat, einen Song zu schreiben, der dich am Genick packt und auf die Tanzfläche zerrt. Pulp haben auch ihren typischen Humor nicht verloren. Cocker kann es sich nicht verkneifen, sich selbst mit der Zeile “I exist to do this/Shouting and pointing” auf die Schippe zu nehmen, aber insgesamt ist die Botschaft tiefer, der Humor liebevoll statt bissig.

Die zweite Single „Got to Have Love“ bildet das Manifest des Albums, das aufrichtigere Kind des Pulp-Klassikers „Disco 2000“, wobei Cocker einen und wahrscheinlich auch sich selbst auffordert, nicht vor emotionaler Verbindung zu fliehen. Und es gibt noch mehr warnende Geschichten darüber, das Licht im Leben nicht erlöschen zu lassen. „Background Noise“ stellt Bass und Tamburin im Ronettes-Stil leisen, verheerenden Tönen gegenüber. “How could I know/That love turns into background noise/You only notice when it disappears,” , sinniert Cocker. „Grown Ups“ ist eine stampfende, gitarrengetriebene Warnung, das eigene Leben nicht in alltägliche Routine und lähmende Gespräche in der Kneipe über den täglichen Arbeitsweg versinken zu lassen. Cocker singt trotzig: “I am not ageing/No, I am just ripening.” 

Bauernmärkte, Pendlerzüge, ruhige Kneipen und Wohltätigkeitsläden

In der Tat. Pulp scheuen sich auf „More“ nicht, die Dinge langsamer anzugehen. Und es sind die ruhigeren Momente, in denen das Album wirklich strahlt. Es ist keine Übertreibung zu sagen, dass „Farmers Market“, mit seinem geschichteten, zurückhaltenden Klavier- und Orchesterarrangement das schönste Lied über das Finden von Liebe im mittleren Alter sein könnte, das man je hören wird. Auf „More“ sind dies die Kulissen: Bauernmärkte, Pendlerzüge, ruhige Kneipen und Wohltätigkeitsläden, die nach Keksen riechen. Der Cocker der 90er Jahre hätte die Mittelmäßigkeit all dessen mit einem cleveren Text auf die Schippe genommen. Aber jetzt ist er mehr an Aufrichtigkeit und dem Finden von Verbindung interessiert. “You smiled and I could see that life had got to you too,” beobachtet er. “Ain’t it time you started feeling?” 

An anderer Stelle meditieren das üppige, von Streichern geführten „Partial Eclipse“ und „Sunset“ über die Natur und große, existenzielle Fragen über unsere Beziehung zur physischen Welt um uns herum. Cocker sagt, sie handeln von Respekt für den Planeten und davon, endlich in der Natur und der Unbedeutsamkeit des Alltags in Anbetracht all dessen zur Ruhe zu kommen. Dreißig Jahre später scheint Cocker an einem Punkt angekommen zu sein, an dem er einfach auf einem Feld stehen kann, im Moment, nicht denkend, sondern fühlend. Das ist tatsächlich ziemlich schön. Und es macht einen unglaublich dankbar, dass die Band nach all dieser Zeit erkannt hat, dass sie uns noch mehr zu geben hat.

Der Beitrag ist ursprünglich auf Englisch erschienen und wurde ins Deutsche übersetzt. Das Original lest ihr hier.

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